Gullivers Reisen zwischen Berlin und Palermo 


Splitter-Echo-Gliederung

 

3. Verhärtung - Misstrauen institutionalisiert Nähe als Gefahr.

Splitter:

Verhärtung ist der kalte Stein, der Vertrauen verweigert.

 

Zeitzeichen:

Verhärtung zeigt, wie schwer es geworden ist,

Resonanz überhaupt zu denken.

BLOCK I. - FLUR CAFE  

 

ZEITZEICHEN: HIER BEGINNT DIE VERHÄRTUNG.

BLOCKADE

Brandschutz, Hausordnung, Misstrauen.

Begegnung wird zur Gefahr erklärt.

Der Flur als Fluchtweg, nicht als Ort der Nähe.

 

 

Flur Café – verboten. Raucherlounge im Wohnzimmer – genehmigt.

Für alle, die wissen, dass Begegnung nicht brandschutzkonform ist

Mir fällt da gerade eine wundervolle alte Werbung ein: als die HB-Männchen noch wirklich in die Luft gingen, oder Otto für ein neues Küchenputzmittel warb und an der Dachrinne am Außenfenster hing, um glücklich strahlend in die Küche zu rufen: „jetzt ist sie streifenfrei sauber“. Aber genauso.

Heute ist leider alles Bierernst (warum heißt das so?) und pedantisch in Bürokratiesprech aufgemotzt. Man denkt unwillkürlich, alle offiziellen Briefe werden von Anwaltskanzleien gegengecheckt – man kann ja nie wissen … Sind wir alle Querulanten, Aussätzige, subversive Elemente?

Ich hatte eine Vision – ja, ich weiß, seit H. Schmidt, soll man damit zum Arzt gehen – aber sie war ganz einfach und unspektakulär: Ich hatte geträumt, in unserem Riesenhaus mit 21 Etagen, könnte man doch 2 x im Monat so was wie ein Flur Café einrichten – auf Klapptisch und Klappstuhl zum Kennenlernen. -

Du weißt im Fahrstuhl nie: wohnt der Mensch hier, oder ist er zu Besuch – zum Austauschen, zum Hilfe organisieren. Soweit der Plan: den Flyer entworfen: „Ein Haus so hoch wie ein ganzes Dorf“ - das Ganze mit einem netten Anschreiben, in dem ich leider eine maximale Personenzahl für das Flur Café angeben musste, an die Grundstücksverwaltung geschickt mit der Bitte um Genehmigung.

Was passiert? Ein Jubelschrei der Hausverwaltung für die Reorganisation ganz alter Muster? Als vor 50 Jahren dieses Haus gebaut wurde, da standen den Mietern sogar Räume zur gemeinsamen Nutzung zur Verfügung zum Klönen, Quatschen, Feiern – lang, lang ist’s her. Mit der Zeit ist aus diesen Räumen der Frisör geworden oder der Blumenladen, vielleicht ja auch das Beerdigungsinstitut. Wie dem auch sei: Hausverwaltungsjubelschrei? Vergiss es!

Ich zitiere das Antwortschreiben wörtlich, denn es ist ein Prachtstück seiner selbst:

Sehr geehrte … wir beziehen uns auf das im Betreff genannte Schreiben und müssen Ihnen mitteilen, dass wir ihrem Antrag leider nicht zustimmen können. Zunächst kommt es bei einem Treffen von 8 – 10 Menschen unweigerlich zu einer Geräuschkulisse, die unserer Hausordnung widerspricht und so auch andere Nachbarn stören kann. Des Weiteren ist solch eine Zusammenkunft auch aus brandschutztechnischen Gründen nicht erlaubt. Die Etagenflure zählen zu den Flucht- und Rettungswegen, welche stets freibleiben müssen. Mit freundlichen Grüßen …

Haben wir noch alle Latten am Zaun, so miteinander umzugehen?!

Wenn ich mir 7 oder 8 oder mehr Nachbarn in meine Wohnung einlade, da können wir laut Lachen, Musik hören, Rauchen bis der Arzt kommt, weil die Wohnungstür die Grenze zwischen Hausverwaltung und mir ist – richtig? Aber auf dem Flur können 3 Nachbarn ein Statik Beben auslösen, oder was?

Wie tief sitzt das gegenseitige Misstrauen zwischen oben und unten, zwischen Eigentümer und Mieter, zwischen Staat und Staatsbürger, zwischen mir und dir, dass wir permanent so aneinander vorbeireden. Hat das System?

„Dieser Text wurde brandschutztechnisch geprüft und für menschlich befunden.“

 BLOCK II. - Systeme, die sich im Weg stehen (Maschine)

 

Berlin, hartes Pflaster.

Apparate wie Wesen aus einer anderen Zeit.

Schnittstellen, Codes, Apps - statt Hilfe nur Abweisung.

 

Diese Straße war schon immer ein hartes Pflaster.

Aber heute schreit dich die Verelendung förmlich an.

Nicht versteckt. Nicht am Rand. Mitten auf der Hauptverkehrsader.

Vor zehn Jahren war Berlin noch sexy. Heute ist  es arm dran.

Und das sieht man. Man hört es. Man riecht es.

 

Ich suche eine bestimmte Hausnummer. Fragen? Zwecklos. 

Der Türke im Laden winkt ab - kennt sich nicht aus.

Also spreche ich den Obdachlosen an, der sein Wägelchen

vor sich herschiebt wie ein letzter Rest Selbstachtung auf Rollen.

"Wo finde ich denn hier .. . ?" Er antwortet. Deutsch. 

Zeigt in die andere Richtung. Ich drücke ihm einen Fünfer in die Hand.

 

Und denke: Die Einzigen, die Berlin noch kennen, 

sind die, die längst verloren haben.

Natürlich war's der falsche Weg. Falsche Richtung. 

Aber was soll's - er hat sich gefreut, 

Und ich? Ich bin das dämliche Weib, das ihm

für einen Irrtum ein Stück Hoffnung  bezahlt hat.

Ich finde den Laden. Endlich.

Ich wollte nur ein paar Seiten ausdrucken.

Drei, vielleicht vier. Ein PDF auf dem Handy,

ein Kopierladen um die Ecke - dachte ich.

Aber Berlin hatte andere Pläne.

 

Der Laden ist voll mit Maschinen, riesige Apparate,

größer als in jeder Druckerei, zehn, elf, vielleicht mehr.

Sie wirken wie Wesen aus einer anderen Zeit - 

oder aus einer Zukunft, die niemand bestellt hat.

 

Ich gehe zum Tresen. Eine ältere Frau, etwas rundlich,

mit einem Gesicht, das schon zu viele Fragen gehört hat.

Ich erkläre mein Anliegen, freundlich , fast flehend. 

Vielleicht erledigt sie es für mich. Ich zahle den Service gern.

 

Statt Hilfe: Ein Streit mit einem Kollegen, der aussieht,

als hätte die Straße ihn erst gegen Morgen ausgespuckt.

Ich traue ihm nicht. Er traut mir nicht. Die Maschine  wartet.

 

Die Dame kehrt zurück. Ich soll eine App herunterladen.

Play Store. Dann einen Code scannen.

Dann die Dateien hochladen -

dann - sind meine Daten weg. Im Orkus. Im Niemandsland.

Im-ich-weiß-nicht-wo.

 

Sie war kurz im Büro. Nicht wegen mir.

Wegen allem. ich streichle ihr den Rücken. 

Lege fünf Euro auf den Tisch. Für die Kaffeetassen.

Für die Menschlichkeit. Für das, was hier fehlt. Und geh.

 

Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht: In meiner Naivität dachte ich doch,

wenn diese hypertollen Geräte alle Schnittstellen und Bluetooth haben,

weshalb können die sich dann nicht erkennen?

Wozu brauche ich noch tausend Schlüssel für einen so einfachen Vorgang -

 

So Freunde, wird das nichts mit der neuen Zeit.

 

BLOCK III. - Ungewollter Stadtspaziergang (Missbrauch)

 

Flexbox, Display, Regen.

Der Code verweigert sich.

Technik kippt ins Dokumentarische, ins

Gefühl des Missbrauchs.

 

Wenn mich heute jemand anspricht,

dann schreie ich aus voller Kehle und stampfe mit den Füssen –

und wenn es ganz schlimm kommt,

dann schlage ich auch um mich.

Ich fühle mich missbraucht.

Als mir vor ein paar Tagen mein Drucker erzählte, dass er die nigelnagelneuen Drucker Patronen eines anderen Herstellers unter keinen Umständen anerkennen würde – muss vielleicht noch ein chinesisches Haar dran geklebt haben – ja, da bestellte ich natürlich sofort brav neue Kartuschen beim Originalhersteller für viel Geld.

Ich würde 2 Tage warten müssen und sie kämen mit UPS. Na also – UPS meldete sich sehr freundlich - die Sendung würde im Zeit Korridor von 9.30 Uhr – bis 11.30 Uhr zugestellt. Da ich UPS-Autos schon öfter vor unserem Haus stehen sah, war ich begeistert von dem Service.

Der Tag kommt, die Zeit läuft. Pünktlich zu Ablauf der Frist sagt mir mein Handy, dass die Sendung zugestellt ist. Wow, denke ich, wie machen die das, ohne zu klingeln. Also an den Briefkasten. hatte ich doch in meiner Naivität angenommen, dass wenn zugestellt, dann bei mir oder was zu mir gehört – der Briefkasten. Aber dort wars leider leer.

Zurück in der Wohnung, floppt die nächste Nachricht auf – die Sendung liegt in der Flex box mit Adressangabe – Google map zeigt mir einen 30 Minuten Weg in einem völlig anderen Wohnviertel – da kommt schon Freude auf. –

Ich frage meinen Untermieter und eine junge Frau im Fahrstuhl, ob jemand Erfahrung mit der Flex box hat, weil mir ist völlig nebulös auf welche Weise sich das Sesam öffnen soll – keiner weiß was – alle gucken mich schon bemitleidenswert an.

Ich mach mich auf die Pirsch. Mit einmal fragen gelingt mir die Straße und Hausnummer zu finden. Die Hausnummer ist ein neues Wohnhaus wie alle in der Straße und – aber ja: davor steht auf dem Gehweg eine zweibeinige Blechbüchsen Ansammlung mit einem Display.

Ich soll das Piktogramm scannen. Das funktioniert schon mal nicht.

Ich soll einen 8-stelligen code eingeben – ich habe keinen code.

Ich gebe die Sendungsnummer ein, die ist so lang, dass das Display ausläuft. –

Ich lese, die Sendung ist bereits eingelagert, ich muss den 8-stelligen code eingeben.

Kein Mensch auf der Straße. Der Himmel dunkelgrau. Es fängt schon an zu tröpfeln.

Es ist zum … ein neuer Blick aufs Handy –

mit Extrapost – jetzt habe ich den sehnsüchtig erwarteten code  -

es fängt an zu gießen – keine Überdachung – warum auch –

der code öffnet den Sesam,

aber erst nach meiner Unterschrift auf dem Display.

Ich bin klitschnass und ungeheuer wütend.

Ich fühle mich missbraucht.

Vom wem? Vom Wetter? vom Hersteller? vom UPS? –

nein von uns allen, dass wir es so weit haben kommen lassen.

Das Versprechen war, mit Hilfe neuer KI-Möglichkeiten geht alles einfacher und schneller.

Wie bitte? Ich gebe es ja zu, wir alten sind einfach überfällig, überflüssig, und dann auch noch überproportional – wer braucht schon Rücksicht.

Ich wundere mich jetzt auch nicht mehr, weshalb

die Leute mir so gestresst entgegenkommen,

wer diesen Irrsinn öfter erlebt,

der braucht sich um seine Gesundheit nicht mehr sorgen.

BLOCK IV. - Flughafen BER (Stillstand)

Self-Check-in, Self-Bording.

Personal verschwindet.

Koffer bleiben zurück.

Das Versprechen der Moderne erstarrt im

Chaos.

 

 

BER, halb fünf morgens.

Übernächtigt, leicht bibbernd,

wenige Leute – scheinbar easy.

Doch die erste Runde beginnt:

erst Bordkarten, dann Self-Check-in.

Christa verliert die Geduld,

ich schleiche zum Automaten,

Oma über 70 mit verwuseltem Lächeln braucht Hilfe.

 

Ein Ausweis, ein Scan –

Bordkarten und Anhänger schießen aus den Schlitzen.

Für Christa: Drama. Ihr Ausweis verweigert sich.

Der Mitarbeiter, schon lichterloh brennend, muss wieder helfen.

Hundertmal dieselbe Frage, hundertmal dieselbe Wut.

 

Er wünscht sie alle gleichzeitig zum Mond.

Self-Bording, Selfwasauchimmer.

Die einzige Mitarbeiterin auf dieser Seite verschwindet einfach –

weg ist sie;

andere Reisende helfen.

Doch unsere Koffer bleiben in München.

Liebe Flughafenchefs:

wenn ihr den ramponierten Ruf des Musterflughafens weiter beschädigen wollt,

dann setzt einfach noch mehr Neuerungen um –

und mit so wenig Personal wie möglich.