- EXTRAPOST – EXTRAPOST - 

Damals war es Schwefelsäure. Heute sind es Algorithmen.

Die Haut brennt anders, aber sie brennt.“

 

Chef: "Was ist mit Jurek?"

Prokurist: "Hat wohl mit der neuen Mischung hantiert - die Verletzung ist tief."

Chef: "Aber doch kein Arbeitsunfall?"

Prokurist: "Nee, zu Hause beim Heizen."

Chef: "Schreib das vorsichtig."

Prokurist: "Die wollen Zahlen und keine Geschichten."

 

„Zwei Stimmen. Zwei Welten. Dieselbe Säure.“

 

Zeitzeichen:

1901 meldet die Berliner Chemieindustrie 312 dokumentierte

Verätzungen. Davon 87 mit bleibenden Schäden.

 

Zeitzeichen:

„Am 14. Juli 1901 wird das erste Chemische Institut eingeweiht.

 27 Jahre nach der ersten Fabrik am Spreearm.“

 

 

 

Emil: Chemiebude, Spreearm Frühjahr 1902

Emil: „Die neue Mischung frisst wie der Teufel. Jurek hat jetzt ’ne Brandblase – sieht aus wie’n Pfirsich.“

 

Paul: „Hatte er Handschuhe?“

 

Emil: „Die aus’m Lager? Die saugen sich voll. Danach haste mehr Säure an der Hand als vorher.“

 

Paul: „Und die Maske?“

 

Emil: „Für die Inspektion. Kriegste keine Luft durch.“

 

Paul: „Vielleicht bauen die da oben jetzt so’n Institut. Für Chemie.“

 

Emil: „Die forschen. Wir verrecken. Vielleicht finden se raus, wie man Schwefelsäure mit’m Löffel essen kann.“

 

Sie lachen. Nicht laut. Aber ehrlich.

 

 

 

Zeitzeichen : 

Mai 1900  -  5000 Angestellte der Berliner Straßenbahnen streiken für den 10-Stundentag und höhere Löhne

 

 

 

 

 

Zeitzeichen:

Die Straße schreit, der Reichstag  rüstet.

Transparente: „Keine Schiffe für Tirpitz!“

 - „Militär macht keine Zukunft.“

 

 

 

 

 

 

 

Emil erzählt – Berlin um 1907

Ich war kein Denker. Ich war Verladearbeiter. Die Bude hat gestunken, und die Nachbarfabrik hat gebrüllt. Aber irgendwas lag in der Luft – nicht nur Schwefel.

 

Klemke hat mich in die Volksbühne geschleppt. Hauptmann. „Die Weber“. Ich hab nicht alles verstanden, aber ich hab gespürt: Da geht was kaputt.

 

Paul und ich – wir sind gerannt. Vor der Polizei, vor der Langeweile, vor dem Stillstand.

 

„Ich weiß nicht, ob das noch Feuer war. Oder schon Asche.“

 

Die Preise stiegen, die Leute schrien, die Zeit raste.

 

Ich hab nicht gewusst, dass das Geschichte ist.

 

Ich dachte, das ist einfach mein Leben.

 

 

Herr Meyer Ort: Berliner Rand - Gewerbepark, Montag 20.9.2024 - 6.20 Uhr

Der Mann fährt um sechs los –

Werkhalle, Gabelstapler, Großbestellungen. 

Er sagt, die Halle ist so groß,

dass man darin den Winter verlieren könnte.

Aber er findet ihn jeden Tag wieder –

in den Gelenken, im Rücken, im Blick.

In der Halle ist den ganzen Tag Lärm,

deshalb trägt er Ohrenschutz.

Die Arbeit ist belastend,

immer die gleichen Bewegungen. 

Er arbeitet für Mindestlohn.

Heute Morgen verteilt der Meister

die neuen Arbeitspläne - ein Blick:

"Det jibs doch ja nich"-

sie sind schon seit Wochen unterbesetzt.

"Und du darfst dich nicht mal aufregen, denn vielleicht fahren morgen in der Halle schon KI gestützte Robotersysteme."

 

 

Zeitzeichen:

Herr Meyer war früher Polier auf dem Bau.

Dann kam die Krise -

Entlassungen und keine Wende in Sicht.

Er ließ sich beim Arbeitsamt umschulen

als Gabelstaplerfahrer aus Verantwortung für seine Familie.

 

Szene: „Das Totalversagen der Chefs “

Ort: Pausenraum Meyer. Zeit: Eine Woche nach der neuen Arbeitsverteilung. Figuren: Paul, Kollegin, Bildschirm mit KI-Stimme. Atmosphäre: Gereizt, erschöpft, misstrauisch.

KI-Stimme (neutral, hohl):

„Bitte beachten Sie die aktualisierte Pausenstruktur. Rückfragen sind nicht vorgesehen.“

Paul (leise, bitter):

"Der Chef ist so ein ... Der Chef war auf'm Lehrgang. Und das ist das Ergebnis ... Schwachsinn - und weil er keine Ahnung hat, lässt er sich gleich gar nicht blicken. Dabei geht das auch ganz anders: Ich hab mit meinem Sohn am Wochenende mal so rumgespielt. Man, wir könnten diese sinnlose Rumkurverei in der Halle von Regal zu Regal viel effektiver machen - mit einer neuen Lagerlogistik. Wir würden Zeit und Wege sparen. Wenn der sich nicht so blöde hätte, ich würde sogar mit ihm reden ... Aber ich sag nichts, sonst bin ich der Erste, der geht."

Kollegin: "Ich will damit nichts zu tun haben."

(Stille. Der Bildschirm blinkt. Niemand antwortet. Die Neonröhre flackert.)

 

Das Vertrauen wird verspielt, bevor es überhaupt angefangen hat.

 

------------------------------------------------------------

 

„Wir sind hier –

„Ich bin nur mitgelaufen.“

 

„Ich hab geschrien, aber keiner hat gehört.“

 

 

 

 

Ein Plakat auf der Demo

„Frieden für alle – außer für die, die zuerst schießen.“ Wer ist gemeint? Wer ist ausgeschlossen?

Eine Stimme, die zögert „Ich wollte mitgehen. Aber ich wusste nicht, ob ich mitgerufen werde.

 

 

 

 

Zeitzeichen:

2025: Die Versammlung wurde aufgelöst. Grund: Unklarer Zweck.

 

„… klaut …“

 

Szene: Hankestraße, Spätschichtende, 18.40 Uhr

Emil tritt aus dem Werkstor. Die Hände schwarz, der Rücken krumm.

Ein Ruf: „Sie kommen vom Alexander!“ Ein anderer: „Die Drucker sind auch dabei!“

Die Straße ist keine Straße mehr – sie ist Bewegung. Plakate, Stimmen, ein Transparent flattert: „Gleicher Lohn – gleiche Stimme!“

Ein Auto hupt, wird zurückgedrängt. Ein Kind auf den Schultern eines Mannes, ruft: „Was schreien die?“

Emil bleibt stehen. Er sieht Jury – am Rand, Zigarette, Blick wie ein Messer. Emil: „Du auch hier?“

Jury (nickt): „Wo sonst? Wenn’s brennt, bin ich da.“

Emil: „Ich weiß nicht, ob das noch Feuer ist. Oder schon Asche.“

Jury: „Noch ist es heiß. Noch bewegt sich was.“

Ein Ruf: „Zur Liebknechtstraße!“ Ein anderer: „Zurück! Polizei!“

Ein Schlag. Ein Schrei. Emil duckt sich, zieht Jury mit. Sie rennen nicht. Sie gehen schnell.

Die Straße tobt. Aber irgendwo, ganz leise, hört Emil seinen eigenen Atem. Und denkt:

Wenn das hier kippt – was kommt dann?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der öffentliche Diskurs ist verstopft, nicht weil es keine Stimmen gäbe, sondern weil die Räume, in denen sie sich begegnen könnten, porös geworden sind. Und Demonstrationen – einst Ausdruck von kollektiver Artikulation – sind heute oft verdächtig, vereinnahmt, verformt, bevor sie überhaupt beginnen.

 

 

„Verstopfte Öffentlichkeit – Splitter der Unhörbarkeit“

 

"Es ging schon so unheilverkündend los -

 

in allen Nebenstraßen standen Polizeiautos aufgereiht - 

 

und auf dem Platz selbst standen zu dem Zeitpunkt nur ein paar Versprengte -

 

ein Witzbold hielt ein Plakat:

"ich bin gegen alles"

 

 

Herr B. am Straßenrand hörte die Rufe: "Nazis raus!", "

Keine macht den Blauen",

"Für Freiheit", "

Wir verteidigen die Republik" "

Nazis raus!" -

"Für Freiheit" -

 

Herr B. denkt bei sich:

"Die Rächer der Entnervten.

Ein Chor mit Ausschlussklausel."

 

Ort: Berlin-Mitte, IT-Spezialist, mittelständisches Unternehmen Er ist Anfang 30, exzellent ausgebildet, mit Empfehlungen von großen Namen. Er hat sich für Berlin entschieden – wegen der Familie, wegen der Zukunft.

 

Er arbeitet zuverlässig.

Jeden Tag.

Er kommt nach Hause, wenn die Kinder schlafen.

Er fragt sich, ob das, was er verpasst, wiederholbar ist.

Er verdient gut. Aber das Geld wärmt nicht.

Es ist der Ersatz für das, worauf er verzichten soll.

Er denkt laut. Nicht über Technik. Sondern über Zeit.

Könnte eine Familienkonferenz helfen?

Schwierig. Die Kosten drücken – Leasingraten, Mieten, Familienbedarf.

Er spürt, dass etwas fehlt.

Manchmal fragt er sich: Ist das schon das Ende?

Oder nur der Anfang von Verzicht?

 

Zeitzeichen:

Der IT-Spezialist arbeitet 60 Stunden pro Woche.

Er hat beste Zeugnisse – aber keine Zeit.

Sein Leben ist effizient. Aber nicht lebendig.--------------------------------------------------------

 

 

 

 

 

1907: „Die Berliner Polizei meldet 43 Festnahmen bei der Demonstration gegen die Teuerung.“

 

 

 

 

Herr M. erinnert sich: „Ich war mal auf einer Demo.

"Aber ich wusste nicht, wofür.“ 

 

 

 

1989:

„Wir sind das Volk“ wird zu „Wir sind ein Volk“. Ein Hörriss.

Ein Kipppunkt. Ein Verlust von Vielstimmigkeit.

 

 

 

 

„Die Straße war laut. Aber Mama hat gesagt: Das ist wichtig.“

 

 

 

“ „… unsere Zukunft …“ (Stille)

 

 

 

wir sind laut – …

 

 2024: „Die Versammlung wurde aufgelöst. Grund: Verkehrsbehinderung.“

 

"Die Polizei war schneller als die Parolen.“

 

 

Zwei Menschen stehen nebeneinander – beide demonstrieren.

Aber sie wissen nicht, ob sie dasselbe meinen.

Und sie fragen nicht.

 

 

"Hör'n die sich manchmal auch selber zu,."

 

 

 

Vielleicht ist Frieden heute kein Ziel mehr. Sondern ein Streit um die Richtung.“

 

 

"Damals war es Schwefelsäure. Heute sind

es Algorithmen.

Die Haut brennt anders. Aber sie brennt."

🕊️ **Noch nicht alles ist erzählt.**

Emil erinnert sich – an Fabrikgeruch, Theaterabende, Straßenlärm.
Aber manches fehlt noch: die großen Linien, die anderen Stimmen, die Zahlen.
Diese Seite ist ein Fragment. Ein Anfang.
Was fehlt, wird kommen. Vielleicht später. Vielleicht anders. Vielleicht durch dich.