Ort: Prenzlauer Berg, Mietskasernen,

Innenhof vollgehängt mit Wäsche vieler Mietparteien

 

1904

Innenhof: Wäscheplatz, Spielplatz,

Beobachtungsposten. 

Austragungsort, Gerüchteküche       

Szene: Hinterhof, Samstag, 14:10 Uhr 

Frau Klemke hängt die Wäsche auf. Vier Kinder rennen durch den Hof. Eins hustet. Eins schreit. Eins trägt ein Holzbein aus Besenstiel.

Der Schlafgänger blinzelt aus der Küche. Er will zur Arbeit. Hat aber keine.

Ein Junge — nicht ihrer — reißt ein Hemd in den Dreck. Frau Lemke sieht es. Sie ruft laut:

„Na, dit is ja wieder typisch!“ „Immer die von drüben!“

Frau Klemke antwortet:

„Wat soll’n dit heißen?“ „Der is nich meiner!“

Frau Lemke:

„Aber bei euch rennen se wie die Hühner!“

Frau Klemke:

„Und bei euch stinken se wie die Ziege!“

Die Wäsche hängt schief. Der Hof ist laut. Die Stadt ist still.

 

 

Zeitzeichen 1900:

In Berlin leben durchschnittlich 5,6 Personen pro Wohnung.

 In den Arbeiterquartieren bis zu 9.

1900: Die Tuberkulose ist die häufigste Todesursache

 unter Berliner Kindern unter 10 Jahren.

 

 

1990

Innenhof: , Spielplatz, Durchgang. 

Beobachtungsposten, Schleichweg, Vertriebspunkt, Gerüchteküche 

 

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Die Alte im dritten Stock

Sie spricht nicht viel, aber sie weiß alles. Sie hat den Krieg gesehen, die Teilung, die Wiedervereinigung. Sie sammelt Geräusche und Gerüche. 

Sie schreibt mit krummer Hand. Nicht für andere. Für sich. Die Seiten sind voll mit Namen, die keiner mehr nennt. Mit Gerüchen, die verschwunden sind. Mit Sätzen, die früher galten.

Sie nennt es nicht Tagebuch. Sie nennt es: „Mein Beweis, dass ich da war.“

------------------------------------------------------------------------------------------------------

Drei Männer stehen im Durchgang. Aubergine, Kiwi, Kunstleder. Sie rauchen, warten auf Termine.

Einer drückt das Klingelbrett, einer erklärt, einer lächelt.

Sie reden schnell. Lächeln glatt. Drücken Klingeln.

Die Alte im dritten Stock schreibt:

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

 

Zeitzeichen: 1990

Kurz nach der Wende, als im Osten alles platt war - die Betriebe dicht, die Arbeitslosigkeit unbekannt und gigantisch - die ersten, die sich rührten waren auffällige junge Männer in der Bahn - morgens frisch gestylt in Aubergine- oder Kiwi - farbigen schlechtsitzenden Anzügen von C&A - mit Kunstledermäppchen auf dem Schoß - dass war die erste Garde des Strukturvertriebs, der sich wie ein Krebsgeschwür über den Osten legte. zum Schreien komisch und trotzdem bitterer Frost!

--------------------------------------------------------------------------------------------------------

----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Der Hof, einst voller Stimmen, Wäsche, Zoff und Spiel, wurde abgegrast – nicht mit Gewalt, sondern mit Verträgen, Versprechen, Vertrieb. Und der Ton, den sie brachten, war kein Dialog. Es war Ansprache, Angebot, Abschluss. Er war glatt, kalkuliert, freundlich – und unverhandelbar.

 

------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

NEUZUZUG

 

 

Der Lehrer im Erdgeschoss 

Er will helfen, aber niemand fragt ihn. Er liest Gedichte, die keiner hören will. Vielleicht ist er der Einzige, der Anna erkennt – wirklich erkennt. 

----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Die Frau mit dem Kopftuch 

Neu im Haus. Spricht wenig Deutsch, aber viel mit den Augen. Sie bringt andere Gerüche, andere Geschichten. Vielleicht wird sie zur Verbündeten von Frau Klemke – oder zur Rivalin. 

----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Die Häuser blieben. Die Menschen gingen. Dann kamen andere. Aber keiner kannte mehr den Hof.“

 

 

2025

Innenhof: leer, Kamera,  Mülltonnen

 

 

 

Emil: „Die da oben hat wieder Besuch …“

Klemke: „Ja, sach ma, jeht’s noch?“

 

Tagesschläfer: „Haste schon jehört“…

 

„Dit hälst’e ja in kopp nich aus.

 

 

Cecilie sieht den Hof sie sieht den Tagschläfer der losgeht,

weil stehenbleiben schlimmer wäre, 

und sie hört die Stimmen dort:

„Ich bin nicht sicher, ob das Geschichte ist,“ sagt sie.

„Dit is det Leben,“ sagt Klemke.

„Ich hab das mal gesammelt,“ sagt die Archivmaus.

„Ich hab das nie verstanden,“ murmelt der Tagschläfer. 

Ihre Tante ruft dazwischen: "Kind, du siehst blass aus.

 

Wohnen bei Klemkes ist kein Zuhause.

 Es ist ein Zustand, ein Arrangement, ein Überleben.

Die Wäsche ist nicht nur Stoff,

sie ist Ordnung, Stolz, Grenze.

Der Zoff im Hof ist nicht nur Lärm,

er ist soziale Verhandlung, Reviermarkierung, Selbstbehauptung.

Und Frau Klemke? Sie hängt die Wäsche neu auf.

Sie sagt nichts mehr.

Aber sie weiß: Wer hier wohnt, muss sich behaupten —

gegen die Enge, gegen die Blicke, gegen das Leben

------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Einer lernt Fahrrad fahren,

einer spielt Ball,

zwei sitzen im Sand.

 

              Vater aus dem Fenster:

„Junge so wird das nichts!“

 

„Das macht man so.“

------------------------------------------------------

"Wiedervereinigungsübernahme"

Sie hat nicht gefeiert. Sie hat gezählt: Wie viele Läden verschwanden. Wie viele Nachbarn gingen. Wie viele Wörter nicht mehr passten.

„Die Einheit war laut. Aber mein Hof wurde leiser.“

Gegen das Vergessen – auch das eigene

"Ich schreibe, damit ich nicht verschwinde bevor ich verschwunden bin,"

---------------------------------------------------------------------------------------------------

"Jetzt kommen sie schon in Anzügen.“  und  später:

---------------------------------

„Heute wieder Zoff. Zwei Frauen, drei Kinder, ein Hemd. Früher war das auch so. Aber anders. Früher war das lauter. Aber wärmer.“  - 

 

Heute wieder neue. Einer mit Haargel, einer mit Lächeln, einer mit nichts. Sie reden von Chancen. Ich sehe nur Vertrieb.“--------------------------------------------------------------------------------------------------

  „Lisa, läßt du das mal sein...“

Anna sieht sie auch

 

Sie geht wie immer. Tramstation, 14:10 Uhr.

Der Tagschläfer sitzt in der Sonne. Die Kinder rennen. Die Wäsche hängt schief. Alles wie immer. Aber nicht ganz.

Da stehen sie. Drei Männer, jung, glatt, fremd. Jetzt kommen sie auch noch mit Anzügen. Sie reden schnell, lachen laut, zeigen Prospekte, drücken Klingeln.

Anna bleibt stehen. Nur kurz. Sie sieht die Alte im dritten Stock – Fenster halb offen, Stift in der Hand. Sie sieht Frau Klemke – die Wäsche neu aufhängend, ohne ein Wort.

Sie denkt:

"Jetzt verkaufen sie uns auch noch den Hof.“

 

Er liest Hölderlin Gedichte : " Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist  ..."  -  Cecilie hört es.  Sie sagt nichts: Aber sie denkt: "Ich kenne diesen Winter,"

 

„Ludmilla sagt nichts. Aber ihre Tochter fragt viel.“

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Das Leben ist ausgetrieben

 

Aus „Wat soll’n dit heißen?“ wurde „Bitte wenden Sie sich an die Hausverwaltung.“

 

Aus „Der is nich meiner!“ wurde „Wir bitten um Rücksichtnahme.“

 

Aus „Dit hälst’e ja in Kopp nich aus“ wurde: „Zutritt nur mit Chipkarte.“