31.12.1899 Sylvester in Berlin – 

 

 

I.

Explosion

 

die Stadt ist aufgewühlt, das Kaiserreich ist euphorisch, sie sind glückstrunken :

die vergangenen Jahre lassen hoffen, dass es erfolgreich weitergeht.

Die Technik explodiert mit den neuen Wirtschaftszweigen:

Elektrizität, Chemie, Motorwagen, Telefon, Kino.

Die Industrie ist schneller als die Wissenschaft.

Firmen wie Bayer, Schering, Agfa produzieren längst auf Hochtouren — aber die akademische Infrastruktur hinkt hinterher.

 

Die Stadt denkt praktisch, nicht theoretisch. Man braucht Arbeitskräfte, nicht Forscher. Man braucht Produktion, nicht Reflexion.

 

Die Wissenschaft ist elitär, die Industrie ist massenhaft. Das Chemische Institut entsteht im Mai 1900 in Mitte, auf dem Gelände der Friedrich-Wilhelms-Universität — nicht in Moabit, nicht in Rummelsburg, wo die Fabriken stehen.

 

Daneben stehen die Großmannssuchtträume zukünftig eine Nation mit Kolonien sein zu wollen – wie alle anderen auch: Holland, England, Spanien, Portugal. – Wir sind spät. Der Zug ist  abgefahren. Aber wer sind wir denn?

Die Welt wird schneller, lauter, unübersichtlicher.

 

Die Städte wachsen in bisher ungeahntem Ausmaß. Arbeitskräfte werden überall gebraucht und Wohnungen auch und Infrastruktur sowieso und das bis auf unabsehbare Zeit.

Berlin explodiert geradezu: lebten 1824 300.000 Einwohner in der Stadt, dann waren es 1933 bereits 4,2 Millionen.

 

Dieses „Wir machen alles und möglichst gleichzeitig, auch wenn’s nicht geht“, ist so berlinisch wie das Pfeifen durch die Zahnlücke.

 

So entstehen in Windeseile die Arbeiter Bezirke Wedding, Reinickendorf und Prenzlauer Berg – Quartiere mit bis zu 4 Hinterhöfen eng, laut, ohne Sonne, Klo halbe Treppe; die Nachbarn wussten akustisch sehr gut übereinander Bescheid – man half sich: aber besser war, man machte seine Tür zu.

 

„Berlin wächst. Nicht nur in Zahlen, sondern in Reibung. Die Stadt ist kein Organismus, sondern ein Aggregatzustand: flüssig, fest, dampfend.

Und in diesem Zustand beginnt etwas, das Georg Simmel später die ‚Form der Wechselwirkung‘ nennen wird. Die Menschen begegnen sich nicht, sie kreuzen sich. Sie sprechen nicht, sie reagieren. Die Stadt ist nicht gebaut — sie ist gemacht aus Beziehungen, aus Blicken, aus Ausweichbewegungen.“

 

Der Zustrom in die Stadt läßt nicht nach – hier waren Arbeitsmöglichkeiten, hier waren Verdienstmöglichkeiten und hier war Anonymität, die nach der Enge der Herkunft aus kleinen Städten und Dörfern wie ein Versprechen klang.

 

Berlin steht unter Dampf. Nicht nur in den Fabriken,

sondern in den Gedanken, in den Körpern, in den Straßen.

Die Stadt will alles gleichzeitig –

Technik, Fortschritt, Wachstum, Ordnung.

Aber sie bekommt: Hitze, Risiko, Zusammenhalt.

 

Zeitzeichen:

Umbrüche, wohin das Auge sieht:

 nicht nur Mägde für die reiche Bürgerschaft

als Köchinnen und Wäscherinnen,

sondern neue Berufe für Frauen –

Verkäuferinnen, Sekretärinnen –

studierten im Sommersemester 1896 40 Frauen,

waren es 1900/01 schon 371

 

 

.

Und dann ertönt ein Schuss – weit ab vom Schuss -

und verändert alles!

II.

Die Ernüchterung  

„Der Erste Weltkrieg war die nationale Katastrophe – nicht wegen seines Ausmaßes, sondern wegen seiner Sinnlosigkeit.“

 

 

 

 

 Die Zahlen sind nackt und unfassbar 

Opfer weltweit

65 Millionen Soldaten weltweit mobilisiert.

9-10 Millionen gefallenen Soldaten.

 ca. 21 Millionen Verwundete weltweit

Viele mit bleibenden Schäden-

Gesamttote (inkl. Zivilisten)   ca. 17 Millionen   Soldaten + Zivilbevölkerung

Kriegskosten weltweit   > 150 Milliarden Reichsmark   Umgerechnet aus nationalen Währungen

 

 

 

 

 

 

 

Deutsche Opfer im Ersten Weltkrieg 

ca. 2 Millionen gefallene deutsche Soldaten von 11 Millionen Mobilisierten

 ca. 2,7 Millionen deutsche Soldaten Verwundete, davon 76 % durch Artillerie.

ca. 750.000 Kriegswitwen als Folge der hohen Verluste.

Ausgelöschte Jahrgänge 1895 - 1900 Männer im Alter von 19 - 24 Jahren

 

 

 

 

 

 

 

 

„Ein junger Mann liest die Zeitung. Er sagt: ‚65 Millionen mobilisiert. 17 Millionen tot. 2 Millionen Deutsche.‘ Dann legt er sie weg. Und sagt nichts mehr.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kein Spiel.

Kein Erlebnis.

 

 

 

 

Nur Verlust.

 

Gründung der 1. Republik am 6. Februar 1919

und ihr stiller Abgang 1933

 

III.

Splitterhypothesen

 

Hypothese 1: „Die Republik beginnt mit einem Nein, das nicht gesprochen wird“

Die SPD hat die Kriegskredite im Reichstag 1914 bewilligt  – sie hat sich verneigt. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst vor der eigenen Courage.

Folge: Burgfrieden * Spaltung * USPD * KPD - Der Riss endet mit Spaltung

 

Hypothese 2:  Die Republik beginnt im Knast – freiwillig: 6. Februar 1919 -

Weimar im Belagerungszustand - „Die Bühne ist leer – aber die Waffen sprechen.“

 

Ebert: „Glück gehabt.“

 Anderer: „So ist das, wenn man sich auf sein Volk verlassen kann.“

 Ebert: „Das meine ich.“

Zeitzeichen:

Von 421 Delegierten der Nationalversammlung

Wählten 328 Ebert zum Reichspräsidenten

Die Delegierten wurden nicht direkt gewählt,

sondern durch Parteistrukturen bestimmt

Die Staatenausschüsse wurden benannt, nicht gewählt

Die Republik beginnt mit Verwaltung, nicht mit Aufbruch

 

 

Hypothese 3: Der Riss ist biografisch – nicht nur politisch  -  „Der Riss, der im Reichstag begann, steht nun vor der Parteizentrale.“

Berlin, Januar 1919

Stimmung: Nach dem Mord an Rosa und Karl Szene: Ein junger Arbeiter steht vor dem Gebäude der SPD-Zentrale. Er hält ein Flugblatt der KPD in der Hand.

 

Er sagt: „Ihr habt sie nicht verteidigt.  Ihr habt sie geopfert.“

Ein älterer Genosse antwortet: „Wir mussten die Republik retten.“

Der Junge: „Welche Republik? Die mit den Freikorps?“

Stille.

 

Zeitzeichen: 

Weil der Riss nicht geheilt wurde.

Weil die SPD nie gesagt hat: „Ja, wir haben versagt.“

Weil die KPD nie gesagt hat:

„Wir verstehen eure Angst.“

Und weil beide Seiten sich nicht mehr zuhören konnten

nicht in den 1920ern, nicht in der Krise, nicht, als die Nazis marschierten. 

 

 Wir reden nicht mehr.“

 

 

Hypothese 4: Der weiße Terror beginnt - März 1919 – Ausnahmezustand in Berlin

 „Die Republik verteidigt sich – mit Bajonetten gegen die, die sie tragen wollten.“

Die Republik wurde nicht verteidigt – sie wurde verwaltet, verhandelt, verloren.

Und wer die Opposition erschießt, verliert die Zukunft.

 

1.200 Tote Berlin, März 1919 – Ausnahmezustand - Freikorps Noske

 

Hypothese 5: Die Republik war nie souverän – sie war von Anfang an fremdbestimmt

Die Weimarer Republik wurde nicht aus eigener Kraft geboren, sondern unter Druck, unter Kontrolle, unter Vorbehalt. Sie war ein politisches Kompromissprodukt – zwischen alten Eliten, internationalen Interessen und innerer Angst.

 

Ort: Bahnhof Berlin, Frühjahr 1919

Szene: Ein Zug steht still.

Ein Arbeiter sagt: „Die Lokomotiven sind weg. Die Wagen auch. Wie soll das Land fahren?“

Ein Beamter antwortet: „Wir haben eine Republik.“

Der Arbeiter: „Aber keine Richtung.“

„Die Republik fährt nicht – sie wird geschoben“

 

Zeitzeichen

11. November 1918

Waffenstillstands-Unterzeichnung und offiziellen Kriegsendes

 

Zeitzeichen

28.06.1919 Unterzeichnung des Versailler Vertrages in Versailles/Frankreich

Beteiligt: Frankreich, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten, Italien –

Für Deutschland – Gebietsabtretungen und hohe Reparationen

 

 

Hypothese 6: Die Republik wurde nicht gestürzt – sie wurde aufgegeben

 

Die Weimarer Republik wurde nicht verteidigt,

sondern durch ihre eigene Struktur,

 ihre eigene Angst,

ihre eigene Sprachlosigkeit

 dem Untergang überlassen.

Sie wurde nicht zerstört –

sie wurde nicht mehr gewollt.

 

 

 

 

Hypothese 7: Die Weltwirtschaftskrise als Kipppunkt

Die globale Finanzkrise von 1929 traf die Weimarer Republik ins Mark: Sie entlarvte die ökonomische Abhängigkeit, überforderte die politische Steuerung und entzog der Demokratie das soziale Fundament. Die Krise war nicht Ursache allein – aber sie war der Moment, in dem die Republik aufhörte, sich selbst zu tragen.

 

 

 

 

 

 

 

IV.

Der stille Abgang

 

Ort: Berliner Cafe, Januar 1933 Szene:

Der Alte liest. Der Junge schweigt.

Draußen marschiert einer.

Braun. Laut.

„Die Fahne hoch …“

Der Alte legt die Zeitung weg.

Er sagt: ‚Jetzt wird Geschichte gemacht – aber nicht mehr von uns.‘“

 

 

Die Republik mit Webfehlern:

Keine Auflösung der monarchistischen Verwaltung

Keine Auflösung des Heeres                     

                                                                        

 

 

„Eine Republik,

die nicht gestaltet,

 überlebt – solange,

wie andere sie überleben lassen.“