Zeitzeichen - Stadtzeichen
Die Archivmaus sammelt und ordnet:
Zeitzeichen:
I. neue Berufe und Ausbildung für Frauen
Die neuen Tempel des Konsums werden zur neuen Dienstleistungsindustrie
Die Kaufhäuser und Warenhäuser wurden zu neuen Bühnen für weibliche Erwerbsarbeit: Verkäuferinnen, Schaufensterdekorateurinnen, Kontoristinnen – das waren moderne Rollenbilder.
Cecilie: „Ich habe die Schaufenster nie dekoriert. Aber ich habe sie gelesen. Wie Bücher, die man nicht anfassen darf.“
Diese Jobs galten als „sauber“ und „repräsentativ“, aber auch als diszipliniert und kontrolliert.
Oft mussten Frauen unverheiratet bleiben, um angestellt zu werden.
Cecilie: "Ich hatte meinen Vertrag in der Hand. Es steht da, schwarz auf weiß. ‚Bei Eheschließung endet das Arbeitsverhältnis.‘ Ich habe ihn unterschrieben. Aber auch gezögert."
Die Arbeit war körperlich weniger belastend, aber psychisch fordernd – mit strengen Kleidervorschriften und Verhaltensregeln.
Zeitzeichen:
Gegründet 1866 in Berlin, war der Lette-Verein
eine der ersten Institutionen, die Frauen beruflich ausbildeten –
in Technik, Gestaltung, Verwaltung.
Zeitzeichen:
Er steht für Selbstermächtigung,
für den Bruch mit der reinen Hausfrauenrolle
II. Der Lette-Verein
Am 27.02.1866 gründeten Berliner Bürger und Bürgerinnen den Verein zur Förderung der Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts.
Der Verein stand unter dem Protektorat der Kronprinzessin Victoria von Preußen und wurde von zahlreichen einflussreichen Familien und Firmen Berlins und Preußens gefördert.
1872 gründete Lettes Tochter Anna Schepeler-Lette die Handels- und Gewerbeschule.
Der Verein unterstützte die Öffnung weiterer Berufsfelder für junge Mädchen und Frauen aus dem Bürgertum jenseits von Gouvernante oder Lehrerin:
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Telegrafistinnen
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Setzerinnen
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Buchbinderinnen
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Kunststickerinnen
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Gutssekretärinnen
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Diätassistentinnen
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Zeichenlehrerinnen
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Hauswirtschafts- und Gewerbelehrerinnen
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Schneiderinnen
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Putzmacherinnen
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Modezeichnerinnen
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Modedirectriecen
Wilhelm Adolf Lette, der Gründer, setzte sich für die Mädchen- und Frauenbildung ein, lehnte aber die politische Emanzipation ab. Dennoch eröffnete er vielen den Weg in ein selbstbestimmtes Leben.
Cecilie: „Ich habe gelernt, um zu bleiben. Aber ich bin weitergegangen. Nicht aus Trotz. Sondern weil ich wusste, dass ich noch nicht angekommen war.“
III. Die Malche
Die Malche – Missionshaus und Ausbildungsstätte
In Bad Freienwalde gründete Pastor Ernst Lohmann 1898 – als Reaktion auf die Not von Frauen, die er auf seinen Reisen durch den Orient erlebt hatte – die Malche.
Sein Ziel war es, Frauen für den missionarisch-diakonischen Dienst auszubilden – nicht nur als Helferinnen, sondern als eigenständige Akteurinnen in einer christlich geprägten Welt.
Cecilie: "Ich fand einen alten Brief: Eine Hedwig M. schrieb an ihre Familie aus dem Urwaldkrankenhaus Lambarene,
in dem sie von ihrer Ausbildungszeit in der Malche erzählt."
Die Ausbildung war durchdrungen von christlicher Ethik, aber auch von einem gewissen Idealismus: Dienst am Nächsten, Bildung als Berufung, Mission als Lebensaufgabe.
Viele Absolventinnen gingen tatsächlich nach Afrika, Asien oder Osteuropa, um dort in Missionsstationen zu unterrichten oder medizinisch zu helfen.
Stadtzeichen:
Berlin um 1900 – Friedrichstraße & Unter den Linden als lebendiger Kosmos
Wer flaniert?
Bürgertöchter mit Hut und Handschuhen, auf der Suche nach einem Blick, nicht nach einem Gespräch.
Offiziere in Paradeuniform, stolz, steif, mit dem Pickelhaube-Schatten im Gesicht.
Arbeiter auf dem Heimweg, die Friedrichstraße durchqueren, aber nicht betreten — sie gehören zum Trottoir, nicht zum Salon.
Provinzler mit staunenden Augen, die sich in der Kaisergalerie verlieren, zwischen Glanz und Glimmer.
Damen der Halbwelt, mit „verwegen aufgesetzten Hüten“ und „glitzernden Gürteln“ — wie Hans Ostwald es beschreibt.
„Keine Berliner Straße dient so der Neugier, dem Laster und dem Bummel wie die Friedrichstraße.“ — Hans Ostwald, 1907
Welche Geschäfte?
Café Bauer & Café Kranzler: Treffpunkte der Intelligenz und der Intrige. Im Café Bauer liegen 800 Tageszeitungen aus.
Kaisergalerie: Prunk, Passage, Begegnung. Hier flaniert man nicht nur, man wird gesehen.
Konditorei mit Glasvitrinen, Hutläden, Zigarrenhandlungen, und dazwischen Bars wie
die „Geier Wally“ mit „Bedienung von Ausländerinnen“.
Der „Jockey-Club“ lockt mit „den schneidigsten Sportsdamen der Residenz“.
Bier- und Weinstuben wie das „Verborgene Veilchen“, wo Bauchtanz und Branntwein sich die Hand geben.
Zeitungen & Schlagzeilen
Berliner Tageblatt, Vossische Zeitung, Berliner Lokal-Anzeiger — sie berichten über:
Kaiserliche Dekrete, Flottenbau, Kolonialpolitik.
Skandale im Theater, neue Stücke von Hauptmann oder Wedekind.
Streiks und Arbeiterproteste, oft mit skeptischem Ton.
Mode aus Paris, Technik aus Amerika, Gerüchte aus Wien.
Im Café Bauer kann man sie alle lesen — oder einfach nur so tun.
Bewegung & Verkehr
Elektrische Straßenbahnen rattern durch die Friedrichstraße.
Pferdeomnibusse sind noch unterwegs, aber ihre Tage sind gezählt.
13.000 Fahrzeuge täglich kreuzen die Ecke Unter den Linden.
Straßenuhren, prachtvoll und präzise, markieren die Zeit — aber nicht den Moment.
Simmels Bewegung
Hier ist alles Wechselwirkung:
Die Blicke, die sich kreuzen.
Die Konkurrenz zwischen den Cafés.
Die Aversionen, die sich in höflichem Schweigen zeigen.
Die Streitlust, die sich in der Zeitung entlädt.
Die Nähe und Distanz, die das Großstadtleben strukturieren.
(hat die Archivmaus gesammelt)
Am Potsdamer Platz findet am 04.10.1900 zwischen 6 – 22 Uhr eine Verkehrszählung statt:
146.146 Fußgänger,
27.412 Fahrzeuge
5.410 Lastwagen,
1.892 Hand- und Hundewagen,
427 Personenwagen,
9.286 Droschken,
2.170 Omnibusse,
4.837 Straßenbahnen,
893 Privatfuhrwerke –
alles an einem Tag wohlgemerkt.
Aber Berlin war nicht nur schick und woke - Berlin hatte binnen 30 - 40 Jahren eine völlig neue Industrielandschaft erschaffen. Die Industriearbeitsplätze reihten sich vor allem an den Ufern der Spreearme – Chemie, Kohle, Farben, Bau – also Schöneweide, Treptow, Köpenick – unverkennbar auch heut noch, selbst wenn daraus inzwischen Lofts gebaut werden. Über die Luft machte sich zu der Zeit noch niemand Gedanken, und so spuckten die Schlote der Fabriken alles an Schadstoffen in die Luft, was die Chemiebuden gerade hergaben.
Mitte dagegen avanciert zum Verwaltungsbezirk mit seinen Ministerien im Zentrum der staatstragender Geschäftigkeit und als Hort für die "Schönen Künste".
Die Museumsinsel liegt mitten in Mitte, aber sie gehört nicht zum Alltag der Berliner — sie ist ein Ort der Repräsentation, der Bildung, der Distanz.
Sie entsteht zwischen 1830 und 1930, ein Jahrhundertprojekt der preußischen Könige. Um 1900 ist sie ein Ort der Ordnung und der Fremden.
Um 1900 sind bereits das Alte Museum, das Neue Museum, die Alte Nationalgalerie und das Bode-Museum gebaut — der Pergamonbau kommt später.
" Ich war dort. Ja,. Ich hab die Frau mit dem
Hut gesehen. Aber ich bin weitergegangen.
Weil ich wusste, dass ich noch nicht
angekommen war.“
Ja, es gibt Reisende, Bildungsbürger, Kunstinteressierte, die Berlin besuchen — oft aus anderen Teilen des Reichs.
Sie kommen mit dem Zug, steigen am Lehrter Bahnhof aus, gehen zur Museumsinsel, sehen die Antiken, die Gemälde, die Skulpturen.
Sie sind sichtbar anders: andere Kleidung, andere Sprache, andere Bewegungen.
Für die Berliner sind sie Fremdkörper, aber auch Versprechen: von Welt, von Bildung, von Ordnung.
Zeitzeichen Kunst 1899
Die Secession formiert sich,
Max Liebermann malt Berliner Straßenszenen,
Käthe Kollwitz beginnt ihre Arbeit an den „Webern“.
Das Theater ist in Aufruhr: Hauptmanns „Die Ratten“ wird diskutiert,
Wedekind provoziert mit „Frühlings Erwachen“.
Zeitzeichen Wissenschaft
Max Planck formuliert 1900 seine Quantentheorie — die Welt wird unsicherer, nicht sicherer.
Die Medizin macht Fortschritte, aber die Seuchen sind noch da: Typhus, Tuberkulose, Kindersterblichkeit.
Nach Westen und Süden hin wachsen die Siedlungen der unzähligen Beamten dieses Staatswesens – der Beamten-Wohnungs-Verein wird im März 1900 gegründet. Diese wachsende Stadt braucht mehr Verwaltungspower -.
Und ganz im Süden liegen die stillen, feinen, lichten Behausungen der Wohlhabenden und Reichen.
Berlin hat sich in kürzester Zeit sortiert.