Gullivers Reisen zwischen Berlin und Palermo

 

 

Splitter-Echo-Gliederung

 

2. Zumutung - „Nähe ist riskant, aber möglich.“

3. Verhärtung - Misstrauen institutionalisiert Nähe als Gefahr.

 

 

 

ZUMUTUNG

„Nähe ist riskant, aber möglich.“

 

 

 

Splitter:

„Zumutung ist nicht Blockade, sondern Bewegung im Schmerz.“

Zeitzeichen:

„Zumutung ist der Prüfstein, an dem

Vertrauen nicht bequem, sondern ehrlich wird.“

 

 

 

 

I.

Es ist Sommer in der Stadt.

Der Asphalt schlägt Blasen, die Baustellen

dampfen.

Ich suche einen Künstlerbedarf – das Netz sagt: Marienburger Straße.

Zauberhaft, denke ich. Die kenne ich wie meine Westentasche. 

Der Weg ist lang, die Baustelle weit.

Die Straße liegt im Schatten, die Bäume sind

noch da.

Aber die Häuser – verwandelt.

Der alte, graue Mörtel ist nicht mehr

verwittert, sondern aufgefrischt,

poliert genug, um zu sagen: Hier bin ich.

Da war die Kneipe.

Oma Lotte saß dort, jeden Tag.

Sie war hier geboren, hockte im Keller auf

Mutters Schoß,

wenn oben die Flieger tobten.

Jetzt vielleicht auf der anderen Straßenseite.

Die Halle? Verschwunden.

Der Pfeil zeigt auf einen Parkplatz – aber der

ist auch nicht mehr, was er war.

Jetzt steht dort ein Gebäudekoloss, dreiteilig:

unten die Halle, darüber Wohnungen,

und hinter dem ehemaligen Parkplatz das

bunte Wellblechraumschiff –

der neue Künstlerbedarf.

Daneben die alte Fabrik, die seit Jahrzehnten vor sich hinsiecht

und immer kleiner wirkt, je größer die Stadt

wird.

Was ist aus dieser Gegend geworden?

Es ist Feierabends Zeit.

Viele mit Fahrrädern unterwegs,

sie kommen nach Hause – in ihre neuen

Domizile.

Junge Leute, Mitte dreißig.

Die haben hier nicht gelebt.

Die sind alle zugezogen

Der Blaumann war hier früher kein Kostüm, sondern

Alltag.

Kariertes Hemd, Zigarettenschachtel in der

Brusttasche.

Der Professor mit Schlips und Kragen – ja, der

gehörte dazu,

aber er war die Ausnahme.

Hier lebten auch die Lebenskünstler, die sagten nachmittags um vier ganz

selbstverständlich „guten Morgen“ zu dir.

Auf dem Rückweg bleibe ich vor dem

kleinen Lädchen mir bunten Schirmen

stehen.  

 

Ich trete ein. ich habe Durst.

An einem Tisch sitzen drei Frauen und die

Ladenbesitzerin tief in eine Unterhaltung verwoben.

Ich bin unschlüssig.

Doch plötzlich ist sie da, die Chefin.

Ich kriege ein kühles Wasser.

Ich bin glücklich und höre die Stimmen am

Tisch - leise, aber klar.

Es geht um Zahlen, um Briefe,

um das Zittern vor dem nächsten Monat.

Die eine sagt: „Ich kann nicht noch mal

umziehen.“

Die andere: „Ich hab schon angefangen,

Sachen zu verschenken.“

Die Ladenbesitzerin hört zu, nickt, sagt nichts.

Ich trinke langsam.

Das Wasser ist kühl,

aber die Luft ist schwer.

Draußen rauscht ein Bus vorbei.

Ein Mann mit Kopfhörern läuft vorbei, schaut

nicht rein.

Ich denke: Das hier ist auch die Marienburger.

Nicht die glatte, nicht die neue.

Und hier sitzen die Leute,

die schon vorher hier waren.

Ich zahle, nicke zum Abschied.

Die Chefin lächelt.

Ich trete hinaus.

Die Schirmchen flattern leicht im Wind.

Was ist aus dieser Gegend geworden?

Vielleicht das:

Ein Ort, an dem man noch zuhört.

Ein Ort, an dem das Glück ein Glas Wasser ist.

Der Prenzlberg, der alte rote Bezirk.

Schwindsüchtige Kinder, vier, fünf Hinterhöfe,

kein Licht.

Heute: Sonnenlicht auf glatten Fassaden,

Cafés mit Namen wie Versprechen.

Wir sollten wissen,

dass wir nicht im Niemandsland sind.

Ich gehe durch die Straßen.

Die Fassaden glänzen, die Stimmen sind neu.

Aber ich denke:

Die wievielte Runde ist das.

Die Stadt lebt von Veränderung. Aber wir leben auf geerbtem Terrain.

 

 

 

 

Erinnerung:

Stadtbild mit Quarkkeulchen

 

Ein Verkaufsanhänger, unter dem Hallendach.

das Stromkabel gezogen wie eine Geste – hoch über dem Alltag.

 

Mit Klappen gegen den Regen, mit Vertrauen gegen den Zufall.

 

Der Duft von Quarkkeulchen

mischte sich in die Luft,

die Straße war durchlässig,

sie nahm Gerüche auf,

ließ Stimmen treiben,

ließ Leben stehenbleiben.

 

Butterblumen wuchsen zwischen den Pflasterfugen,

nicht gefragt, nicht gestört.

 

Kleinstgeschäfte öffneten wie Fenster in andere Welten.

Man sah sich an.

Nicht aus Pflicht, sondern aus Neugier.

Weil etwas offen war, nicht abgeschlossen.

 

 

 

 

 

 

II.

Der Alexanderplatz ist der hässlichste Platz der Welt

 

Wenn du von oben schaust, siehst du nur Stein Quader in den Himmel ragen –

die verändern ihr Gesicht ja nicht, nur weil sie jetzt schwarz aussehen.

 

Die Betonzwischenräume bevölkern wir,

ameisengleich imaginären Spuren folgend.

Die Sonne brennt erbarmungslos auf diesen Platz. –

Erleichterung nur durch die Schlagschatten der Häuser,

der Hotels, der Geschäftsparadise, der funkelnden Reklamen.

 

Die Luft ist heiß und stickig.

Unwillkürlich fragst du dich, worauf die Leute hier alle warten.

Eine junge Mama schiebt ganz vorsichtig ihren Kinderwagen vor und zurück –

das Baby soll schlafen –

hier?

 

Eine Gruppe von Touristen entert die Systemgastronomie – welches System? –

mich erinnert das immer an Sprachcomputer: „bitte drücken sie jetzt die Eins“,

„oder die Zwei“, „oder die Drei“ oder

du haust dein Handy gleich in den Gully.

 

Glaubt irgendjemand wirklich, wir leben in einer Welt,

die nur „Ja“ oder „Nein“ Antworten kennt.

„Bier oder Brause“

„Welches Schweinchen möchten Sie“ führt schon zu Überlastung –

ist nicht verifizierbar.

Na, so ein Pech.

 

Dieser Platz ist nur zu ertragen mit Rummel und Weihnachtsmarkt –

dann schlägt das Getöse die Tristess.

 

Wo leben die Architekten, die sich diesen Wahnsinn haben einfallen lassen?

 

In Richtung Leipziger Straße ziehen sich Straßenschluchten,

die kannst du nur nach einem Stahlbad ertragen als Super Hero

oder du greifst dir gleich einen Roller.

Endlich weiß ich, wozu die Dinger richtig gut sind:

du kannst diesen Irrsinn mit immer gleicher Fassade aus Glas, Beton und Stahl

nur in einem gleichmäßigen Dahingleiten ertragen.

Was für ein Trost.

 

Welcher Furor hat uns geritten, diese städtische Glanzleistung zu zulassen?

 

Wollten wir in unserer Großmannssucht ein bisschen NEW YORK spielen, ja? –

 

weil Berlin jetzt Welthauptstadt ist? – wie lächerlich!

 

 

Ich erinnere Zeiten, da war Berlin zugegebenermaßen

kleiner, piefiger, geteilter, aber menschlicher.

Da sitzt du zur blauen Stunde auf dem Alex nebst Spargel

mitten in Rasenflächen und Büschen auf Bänken

und träumst dich in den Abend.

Der Verkehr rauscht um dich herum.

Du siehst staunend den Stadtkaninchen bei ihren Abendritualen zu

und bist überrascht, wie viele auf dieser Insel leben.

 

Lakomy hat ein Kinderlied darüber geschrieben:

„Mimilitt – das Stadtkaninchen“

und die Lütte hat’s gesungen. –

Alles gegenüber dem Roten Rathaus.

 

 

Du musst das nicht mögen, aber bitte sag mir, was dir an diesem Platz jetzt gefällt.

 

 

 

 

 

III.

Der Anton-Saefkow-Platz

 

Oh, war ich gespannt, wie würde sich mir der Platz nach mehrjähriger Pause zeigen.

Du kommst vom Parkplatz die Treppe rauf und bist auf dem Anton-Saefkow-Platz –

ringsum überragt von Hochhäusern der Extraklasse,

alle Ende der 70iger wie von Riesenhänden hier abgesetzt,

abgestuft in allen Höhe, aber 10 Geschosse sind Minimum.

 

Die alte Platte, - alle schmuck rausgeputzt,

aber nicht schreiend,

sondern Terrakotta-Steinorange und Hellweiß fast mit einem Silbertouch.

Die Seitenflächen der Riesen sind mit kleineren Rechtecken bestückt, fast schuppenartig.

 

Ich atme hier tief durch und denke –

zu Hause, so fühlt sich zu Hause an.

Sonntagnachmittag - viele Leute auf dem Boulevard,

offene Restaurants- von Bierbar über Sushi bis Kaffee alles da, sogar eine Eisdiele.

 

Du siehst sie alle: alte Leute mit Rollstuhl oder Rollator, behinderte Leute,

Einzelgänger, Familien mit kleinen Kindern,

Hundebesitzer, Paare jeden Alters und alle –

du siehst es ihnen an: sie wissen, was für ein Glück sie haben,

hier zu leben mit dem sich anschließenden Fennpful.

 

Ein See, in dessen Mitte vom Frühjahr bis zum Herbst

eine riesige Fontäne rauscht.

Wenn der Wind aus der falschen Richtung kommt,

schickt er dir den Sprühnebel ins Gesicht.

Auf den Treppen runter zum Wasser sitzen Leute, 

auf den Bänken ringsum ebenso.

 

Der Park läuft auf mehreren Ebenen ellipsenförmig um den See.

An seinen Rändern: Sporthallen, Sportplätze, Tischtennisplatten,

vor dem Gemeindehaus 2 Spielplätze für die kleinen,

selbst der Hundetrainingsplatz sieht absolut gepflegt aus.

 

Auf der anderen Seite des Parkes steht eine Stele mit Beschriftung.

Sie erinnert an die Zwangsarbeiter Lager, die hier standen,

für den Nachschub in der deutschen Reichs Kriegsindustrie.

Viele überlebten nicht – Hunger und Bombenangriffe –

ohne Nahrung und Schutz.

Im unteren Teil des Parks sind aus dicken Bohlen Liegen gebaut -

die an Pritschen erinnern –

und dahinter hüfthoch Drahtkörbe mit Steinbruch.

 

Sie erinnern still an die Verbrechen –

inzwischen wachsen sie in die Umgebung ein:

aber wer fragt, bekommt Antworten.

 

 

Auf dem Rückweg treffe ich viele andere Besucher wieder.

Die Frau mit dem rosa Kopftuch, die ihren Kinderwagen schiebt

und auf noch zwei Zwerge aufpassen muss,

der Papa, der seinen Sohnemann stolz auf den Schultern trägt,

die alte Frau, die ganz still und unbeweglich auf der Bank saß –

jetzt sind die Blicke nicht mehr fremd.

 

Ich suche die Eisdiele.

Der Eigentümer, Ende der dreißiger.

Ich frage: „weißt du, wie schön du es hast?“

Er versteht mich erst nicht, aber dann sagt er:

Er habe genau den Laden hier eröffnen wollen.

Die Leute hier seien freundlich, sehr sozial –

und ja, arm, das weiß ich aus früherer Zeit auch,

und du siehst es an manch abgetretenen Schuhen jetzt.

Als ich ihm sage, wie schön es hier ist und was für ein Glück das ist,

strahlt er mich an und bedankt sich.

 

Hier wirken Menschen mit großen Herzen:

im Schaukasten gibt es ein Projekt 50+,

das Hilfe anbietet: Telefonnummer und Sprechzeiten – so einfach.

Die große Bibliothek bietet ein Riesenprogramm

mit Ausstellungen und beispielsweise dienstags 16 – 17 Uhr Vorlesen,

oder basteln, oder – jeden Tag was anderes.

Dafür braucht es viele helfende Hände und offenbar viele glückliche Hände.

 

 

Das ist vielleicht das Auffälligste:

absolute Sauberkeit, nirgendwo Müllecken,

dafür Kunst im Raum aus Stein oder gegossen in Metall –

sie gehören einfach dazu.

 

Wie geht das?

Durch den Aufbau von 3 Ebenen –

gewachsen sicher über Jahre –

Ordnungsamt, Grünflächenamt, Parkläufer.

Die Parkläufer haben ein buntes Wägelchen im Park

und sind Ansprechpartner oder drehen ihre Runden – das ist Ehrenamt.

Und sie haben es durchgesetzt:

kein Grillen (Brandgefahr für den ganzen Park und umstehende Häuser),

kein ruhestörender Lärm – einfach nur Parkruhe – himmlisch.

 

Vielleicht sollte der Senat nicht mit Zäunen liebäugeln,

sondern lieber hierherschauen.

Aber es ist wie überall: jeder hat seinen eigenen Spleen.

 

Ich freu mich so,

ich hab den Platz nicht nur wiedergefunden,

sondern er ist noch viel schöner als je zuvor.

Die Leute hier wissen das –

sie sehen dich staunen und erwidern dein Lächeln,

das ist kaum zu glauben.

Selbst der Kumpel, der dich um eine Zigarette anschnorren will,

akzeptiert dass du Nichtraucher bist und sagt „sorry“.