Mietskasernen in Berlin um 1900

1904   Wohnen im Berliner Milieu

 

Segration ist die Antwort der Moderne auf das Aufblähen der Städte. Wohnviertel oder Wohngegenden, die in Monokultur entstehen, standardisiert mit dem Nötigsten –

Stube, Kammer, Küche mit Ausguss, Klo halbe Treppe –

das ist der ganze (Wahnsinns) Luxus, manchmal für mehr Menschen als Betten.

 

Mutter Klemkes zu Hause:

 

"Vier Kinder, und keene Wand zwischen

Küche und Stube."

 

"Der Jüngste hat Husten, der Älteste will zur

Gewerkschaft."

 

"Die Schule? Joa, wenn se nich grad frieren

oder hungrig sind, lernen se auch wat."

 

"Aber meistens lernen se, wie man

durchkommt."

(hat die Archivmaus aufgeschnappt)

Höfe ohne Sonne und Licht, meist zugezogen mit unzähligen Wäscheleinen.

In den Häusern kennt jeder jeden, mit allen Schrunden und Verletzungen des Lebens – hier wohnt der Suff, hier wird Tabak gequalmt, dass die Fliegen sich lieber an die klebrigen Fänger hängen, hier wohnt der Gestank von Schweiß, die Angst, das Elend.

Vor allem in drei Stadtbezirken Berlins entstehen diese Viertel, die Tuberkulose und Schwindsucht begünstigen und da ihre Heimat finden: Prenzlauer Berg, Wedding, Reinickendorf.

Hier wohnen Arbeiter. Alle sozial auf der gleichen Stufe, alle finanziell abhängig in Lohn und Brot sehr ähnlich gestellt, alle mit dem ähnlichen Bildungsabschluss.

Hier gibt es keine Privatsphäre, hier gibt es keine Ruhe oder Platz zum Lernen – hier wächst das Elend in die nächste Generation – Entrinnen – nicht vorgesehen, kaum vorstellbar. 

Gesellschaft entsteht nicht durch fertige Strukturen, sondern durch das Miteinander und Gegeneinander von Menschen.

Jeder Konflikt, jede Spannung, jede Meinungsverschiedenheit ist eine Form von Beziehung — nicht ihr Scheitern. (Simmel)

 

 

Die Volksbühnenbewegung – „Die Kunst dem Volke!“

Gegründet 1890 mit der Freien Volksbühne in Berlin.

Ziel: Theater für Arbeiter – bezahlbar, politisch, aufrüttelnd.

Mitglieder zahlten 50 Pfennig, Plätze wurden ausgelost.

1914: Eröffnung der Berliner Volksbühne am Bülowplatz – ein eigenes Haus für die Bewegung.

In den 1920er Jahren über 160.000 Mitglieder deutschlandweit.

Stücke wie Hinkemann von Ernst Toller – brutal, expressionistisch, gesellschaftskritisch.

Intendanten wie Erwin Piscator experimentierten mit Projektionen, Laufbändern, Fahrstühlen – Theater als politisches Medium.

Gerhart Hauptmann ist hier genau richtig. Nicht nur, weil er der große Naturalist war, sondern weil er mitten in der Volksbühnenbewegung stand. Seine Stücke waren nicht für die Salons, sondern für die Hinterhöfe. Für Mutter Klemke und Emil. Für die, die wussten, wie Armut riecht.

Die Volksbühne zeigte auch verbotene Stücke – in geschlossenen Aufführungen für Mitglieder. → Das war organisiertes Theater für ein organisiertes Publikum – ein revolutionärer Gedanke

 

 

Und Mutter Klemke? Sie sitzt im dritten Hinterhof, aber sie geht zur Volksbühne. Sie sieht „Die Weber“ – und erkennt ihren Schwager darin. Sie hört „Vor Sonnenaufgang“ – und denkt an die Nachbarin, die trinkt. Sie sagt:

 

"Ick saß in der dritten Reihe, aber det Stück saß bei mir.

 

Der Mann auf der Bühne hat jeschrien, wie

mein Emil, wenn der Lohn nich reicht.

 

und

ick dacht: Dit is Theater, wie det Leben is –

bloß mit Licht.“

 

oder

 

Der Vorhang ging auf, aber det war keene Bühne –

det war unsere Küche."

Archivmaus (leicht : „So wunderbar präzise beobachtet.“ (Pause)  Ein Echo aus dem Jetzt: „Aber det war auch 'ne Bauwut in den 70-igern, wa? Einfach. Billig. Zweckmäßig.“ (Pause) „Für den 3. Hinterhof in Prenzlauer Berg -  Erlösung. Für die anderen: Moloch.“ (Pause) „Müllers Fickzellen – det hat man jeschrien, aber trotzdem sind se eingezogen.“ "Und heute -  die Platte lebt!"

 

 

„Die Platte lebt.

 

Nicht als Denkmal, sondern als Oberfläche.

 

Die Rekonstruktion hat ihr ein spitzenmäßiges Aussehen verpasst –

 

klare Linien, glatte Fassaden, frische Farbe.

 

Was früher muffig war, ist jetzt minimalistisch.

 

Was einst gedrängt war, wirkt nun großzügig.

 

Aber die Stimmen sind noch da.

 

Unter dem Putz. Hinter dem Licht.“

 

 

"Manche Zeugen sind klein. Aber sie vergessen nichts."