Cecilie

 

 

 

Zeitzeichen:

Cecilie  sieht nur die Uhr im Schaufenster von Wertheim: 8:58.

Noch zwei Minuten.

Sie schiebt sich durch die Menge —

117.000 Passanten täglich, und heute sind sie alle gleichzeitig da.

 Ein Herr mit Monokel, eine Dame mit Federhut.  Cecilie sieht sie nicht.

Ein Dienstmädchen mit Korb, ein Arbeiter mit Brotzeitdose. Cecilie sieht sie nicht.

Die Friedrichstraße ist ein Strom,

und sie ist nur ein Tropfen darin.

Ein Tourist bleibt stehen, fotografiert mit seiner Kodak.

Er sieht das Spektakel:

Leuchtreklamen, Tingeltangel, die Kaisergalerie.

Er sieht Berlin als Moloch, als Bühne, als Mythos.

Cecilie sieht nur den Eingang zum Büro —

und die Treppe, die sie noch nehmen muss.

„Ich bin pünktlich. Ich bin ordentlich. Aber bin ich auch da? Ich steige ein. Ich steige aus. Ich weiß, wohin. Aber nicht, warum. Ich sehe die Treppe. Ich sehe die Uhr. Ich sehe mich nicht.“

 

 

 

 

 

Zeitzeichen:

Der Tagschläfer denkt:

„Die gehört zu denen, die nicht fallen.

Die haben ein Netz. Eine Tante. Ein Kontor.

Eine Bluse, die sitzt.

Die steigen ein, steigen aus, und wissen, wohin.

Ich steig ein, steig aus, und weiß nur, dass ich nicht bleiben kann.“

 

 

 

Ort: Berlin  Friedrichstrasse 11. September 1904 

 

Cecilie denkt nicht laut. Sie denkt leise.

Ihre Schritte sind korrekt,

ihr Rock ist glatt, ihr Blick gesenkt.

Sie weiß, dass ihre Zeit abläuft.

Nicht weil sie versagt. Sondern weil sie sich verändert.

 

Wenn die Tinte trocknet

und die Uhr nicht tickt, fragt sie sich:

„Bin ich noch ich?

Oder nur das, was man von mir erwartet?“

 

Ich mache meine Arbeit.

Ich bin pünktlich.

Ich bin ordentlich.

 

 Aber manchmal, wenn ich aus dem Fenster sehe,

sehe ich nicht nur die Straße.

Ich sehe eine Bewegung, eine Möglichkeit,

ein anderes Leben.

Ich weiß nicht, wie es aussieht.

Ich weiß nur, dass es nicht hier ist.

Noch nicht. Vielleicht nie.

Aber ich denke daran.“

 

 

 

Zeitzeichen:

1902: Verheiratete Frauen

dürfen nicht mehr im Kontor arbeiten. 

Ihre Pflichten liegen fortan im häuslichen Bereich. 

Cecilie weiß das. Sie weiß es seit dem ersten Tag.

"Ich habe den Vertag selber gelesen und unterschrieben."

 

 


Anna

Szene: Mittwochabend 22.00 Garderobe Lette-Verein

 

„Der Lette-Verein – ein Ort, an dem Frauen nicht nur lernen,

sondern sich neu definieren. Für Anna ist er kein Spiegel, sondern ein Werkzeug.“

 

„Cecilie steht im Flur. ("Die Tochter, die ging...")

Der Prospekt in der Hand. Stimmen dringen durch die Tür.

Eine sagt: ‚Ich lerne, damit ich nicht mehr fragen muss.‘ Cecilie hört es. Und geht hinein.“

 

 

Anna steht am Spiegel, zieht ihren Mantel an.

Die Hände sind rau,

die Augen wach.

 

Cecilie kommt dazu,

etwas später,

mit einem Prospekt in der Tasche

und einem leisen Lächeln.

 

Anna (trocken) „Du bist die vom Kontor, oder?

Die mit dem Chef, der fragt, ob du zufrieden bist.“

 

Cecilie (lächelt, leicht verlegen): „Ja. Ich lerne jeden Tag dazu.“

Anna (knapp): „Ich lerne, damit ich nicht mehr fragen muss.

 

Nicht nach Erlaubnis.

 

Nicht nach Gehalt.“

 

(Cecilie senkt den Blick, streicht über den Prospekt.)

Cecilie: „Ich hoffe, dass es sich ändert.

Dass man mich sieht.“

 

Anna (blickt in den Spiegel): „Ich will nicht gesehen werden.

Ich will entscheiden.“

 

Cecilie; „Vielleicht ist das hier... ein Anfang.“

Zeitzeichen:

Anna ist ein wenig älter als Cecilie und wesentlich erfahrener,

sie hat schon in vielen Berufsfeldern gearbeitet:

an der Maschine in der Maschinenfabrik, am Webstuhl, hinterm Ladentisch –

sie kennt sich aus und weiß, sie muss ihr eigenes Geld verdienen –

sie hat keine Unterstützung von niemand.

 

 

Zeitzeichen:

Diese junge Frauengeneration ist die erste,

die Bildung für sich einfordert und in Anspruch nimmt,

auf der Suche nach Anerkennung und sozialer Absicherung -

unabhängig von Gesetzen und Vorschriften.

 

 

Zeitzeichen:

"Ich war mal jemand."

"Jetzt bin ich eine Kennzahl."

"Der Himmel reißt nicht auf - nicht, weil

niemand hinsieht, sondern weil ihn niemand zur Kenntnis nimmt."

D a s   i s t  d a s   P r o b l e m. 

 

 

 

 

 

Z W I S C H E N R U F

 

Sie wollen losgehen. Die eine sieht die Treppe. Die andere sieht die Gebühr.

Die eine fragt: Bin ich da?

Die andere fragt: Wie soll ich das bezahlen?

 

Die Stadt zählt 117.000 Schritte am Tag. Aber keiner zählt, wie viele davon zögern.

 

 

Ein Kind ist kein Beinbruch. Ein Rock ist keine Rüstung.

 

 

 

Damals ging ich los, weil ich wollte.

Heute geh ich, weil ich muss.

Damals war der Beruf ein Ort.

Heute ist er eine zeitliche Frequenz.

Ich bin nicht gegen das Jetzt.

 

Aber ich weiß, dass ich einmal entscheiden konnte.

 

Und ich weiß, wie sich das anfühlt.

 

 

„Sie wollen Leistungsträger.

Keine Suchenden.“

„Und genau die, die Unterstützung brauchen,

bekommen am wenigsten davon.“

Gegenwartsszene: Der mit dem Takt

 

Er war immer da.

Früh.

Lautlos.

Verlässlich.

60 Stunden,

kein Wort zu viel.

 

Jetzt steht er da.

Ohne Takt.

Ohne Auftrag.

„Ich weiß nicht, wie man wartet.“

 

„Ich weiß nicht, wie man fragt.“

 

„Ich war nie ein Fall.

 

Ich war ein Ablauf.“

Und jetzt?

 

Jetzt ist er eine Lücke im System.

 

Nicht sichtbar.

 

Aber spürbar.

 


Frühjahr 2024

Celine, Anfang 20, Mutter eines kleinen Sohnes

„Ich wollte mich für die Ausbildung zur Pflegefachfrau anmelden,   

weil die doch händeringend gesucht werden –

aber der Kurs kostet 490,00 € Studiengebühren.

Wovon soll ich die denn bezahlen.

Ich dachte, wenn der Kleene in die Schule kommt,

dann bin ich in 3 Jahren och fertig –

aber so wird das nichts.“

 

Martha: „Ach Mädchen …

kannste denn nicht versuchen,

über `ne Stiftung die Finanzen zu regeln?“

„Hör uff,

wenn die hören,

junge Mutter mit Kleinkind –

ist der Ofen aus.

 

Man, `nen Kind is doch keen Beinbruch,

 

`nen Kind ist ein Geschenk.

 

 

 

Und vielleicht: ein junger Mensch heute, der das liest und fragt: "Wo komme ich her:"


"Ich lerne, damit ich nicht falle."

Trude: Pausenraum der BVG

„Ja, ick hab umgeschult zur Tramfahrerin.

Vorher war ich Verkäuferin im Schuhsalon,

aber seit Zalando die Schuhe liefert,

war ich überflüssig.

Zu Anfang – also so vor 7 Jahren –

da war dit noch okay –

aber jetzt: nur Streß –

Baustellen – Ausfälle – volle Züge –

du musst uffpassen, wie …

Ich bin abends total erschossen.

Ort: Großraumbüro, Berlin, 17:42 Uhr

 

 

Sie hat alles erledigt. Die Zahlen stimmen. Der Bericht ist verschickt.

 

Sie bleibt noch kurz sitzen. Nicht weil sie muss. Sondern weil sie nicht weiß, wohin mit sich.

 

(„Manchmal denke ich an Stimmen, die nicht aus Büchern kamen.“)

 

Sie sieht die Kaffeemaschine. Sie hört das Summen der Klimaanlage.

 

 

( „Sie streichelte meine Hand.“  „Die Bohnen waren warm. Die Stimme war brüchig. Ich habe nie gefragt, wie sie hieß.“)

 

 

Sie denkt: „Ich bin pünktlich. Ich bin ordentlich. Aber bin ich auch da?“

 

"Was bleibt von mir, wenn meine Arbeit nicht mehr zählt."

"Und wenn auch Bildung nicht mehr zählt, was dann?"