Splitterkind
Ich habe lange überlegt, ob ich das erzählen soll.
Jetzt ist es soweit.
Splitterkind ist aus Fäden gewachsen,
die ich lange nicht gesehen habe.
Manche sind rau. Manche glänzen.
Und alle führen irgendwohin.
Splitterkind –
Erinnerungen aus Wärme und Licht
Gudrun Wilzopolski
„Manches leuchtet erst, wenn man hinschaut.“
ISBN:
Für C.,
der die Splitter verstand,
bevor es Splitterchen wurden.
1.
Ein Ort in den Falten der Geschichte
Geboren in den mittleren Falten des vorigen Jahrhunderts –
der letzte große Krieg war gerade vorbei.
An den Straßenecken lagen noch die Trümmer
zerbombter Häuser, wie dürre Gerippe in den Himmel ragend.
Auf kleinen rollenden Brettchen
schoben sich die Kriegsversehrten
aus dem Straßenbild,
lautlos, beinahe unsichtbar
in stille Torwege,
wartend auf milde Gaben,
auf einen Blick, vielleicht ein kurzes Gespräch.
Aus der Ponnybar quoll lauter, warmer Dunst in die Gassen –
ein Versprechen von Sattheit und Wohlempfinden,
ein Duft, der Erinnerungen weckte und Träume schürte.
Wenn die Züge kamen und gingen,
belebten sich die Bürgersteige:
ein quirliges Band aus Koffern und Handwagen,
aus Jung und Alt.
In den Fenstern lagen die alten Witwen und Rentnerinnen,
die Augen auf die Straße gerichtet –
ihr tägliches Kino.
Davon gab es übrigens zwei:
das winzige am Kohlenhof hinterm Kanal,
und ein größeres, respektableres
gegenüber der kleinen Kirche im Herzen der Stadt.
Dort, wo die Häuser schon gutbürgerlich wirkten,
und der Krieg weniger Lücken hinterlassen hatte.
2.
Ein Ort zum Wohnen
Es ergab sich,
dass auf dem Betriebsgelände
in der Hauptstraße
das ehemalige Bürohäuschen frei geräumt wurde –
ein kleiner Steinblock mit 2 Zimmern,
Küche und Speisekammer –
Klo nebenan für alle Mitarbeiter
des Betriebes und eins für Privat;
im Winter froren regelmäßig die Wasserleitungen ein.
Und es gab noch richtige Winter bis – 27 Grad in der Spitze.
Da zogen wir ein:
mit den gebrauchten Ehebetten
von Verwandten, den Nachttischen
wieder anderer Herkunft,
mit Kinderbett und Schrank,
mit Sofa, Tisch und Stühlen nebst riesiger Anrichte
fürs Wohnzimmer.
Das waren unsere Schätze.
Zeitzeichen 1:
es gab nur einfache Fenster,
die morgens dicht mit Eisblumen
übersät waren im Winter,
deshalb blies mir die Mama
morgens immer erst ein Guckloch
in die Scheibe, dass ich sehen konnte.
Zeitzeichen 2:
mein Lieblingsanzug zu dieser Zeit war
ein kleiner dunkelblauer warmer Trainingsanzug.
Zeitzeichen 3:
das Kind schlief im Bett der Eltern ein
und wurde regelmäßig nachts
auf das Sofa im Wohnzimmer umgebettet –
meistens unbemerkt.
Es war nichts zu tun.
Das Radio sprach von Dingen,
die mir nicht gehörten.
Ich lernte Langeweile.
Sie schmeckte nach altem Tee
und dem Krümel unter dem Finger.
3.
Die ersten verwegenen Schritte
Ich war gerade kurz über drei
und der Tag begann wie jeder andere:
mit Langeweile und Neugier.
Das Werktor stand offen –
für mich wie ein Ruf nach draußen.
Der Durst trieb mich drei Ecken weiter,
den Hügel hoch, zum Milchladen.
Ich kannte ihn aus Spaziergängen
mit der Mama.
Ein Ort, an dem große Kannen
glänzten und der Duft
von frischer Milch die Luft erfüllte.
Doch in meinem Glas war kein Platz
für Träume – nur Sand.
Ich wurde wütend auf mich,
auf meine Enttäuschung,
und kehrte um.
Zuhause tobte längst eine Suchaktion,
doch ich verstand die Aufregung nicht.
Ich versprach, nicht mehr allein loszuziehen –
ein Versprechen,
das der Entdeckungslust nicht standhielt.
Zeitzeichen 4:
die Milch kam weder aus einem Tetrapack
noch aus Flaschen,
sondern wurde aus großen Metallkannen
mit Litermaßen in mitgebrachte Gefäße gegossen.
Es klapperte, es schäumte, es roch nach frischer Milch.
Jede Familie brachte ihre eigene Milchkanne –
mit eigenen Geschichten am Henkel.
Tage später, ich war schon auf der Kanalbrücke –
ich wollte mit dem Zug
ins nächste Dorf fahren
und die andere Oma besuchen.
Plötzlich fasste mich ein Arm
und zog mich in einem Tempo
hinter sich her, dass meine Beine
den Boden nicht mehr spürten.
Das war mein Vater.
Jetzt wurde es ernst – mein Vater,
wortlos, mit rasender Wut und Angst.
Ich begann zu begreifen,
was meine Freiheit für andere bedeutete.
Aber das Verlangen blieb: nach Orten,
Momenten, Geheimnissen hinter
der nächsten Straßenecke.
Mein letzter Coup war ein halber Triumph.
Ich klingelte bei der Oma die im gleichen Ort –
aber trotzdem weit weg - wohnte, ganz allein.
Die Treppenstufen wurden zu Bergen,
die Klingel zum ersehnten gerade
noch so Erreichbaren.
Und sie?
Ließ sich nichts anmerken.
Ich bekam Kinderkaffee mit Milch,
wie eine Heldin empfangen.
Doch mein Glück war flüchtig –
mein Plan, nach kurzem Gruß
wieder zu verschwinden, scheiterte.
Papa schwieg seit dem Abend mehrere Tage.
Das war schlimmer als jede Strafe.
Aber ich habe alles gesehen.
Das Hotel hatte eine breite Glasfront.
Chrom glitzerte wie Eis.
Die Teppiche stopften jedes Geräusch –
nur der Kellner vor der Tür machte Lärm:
sein Rauch, seine Schuhe, sein Blick.
Ich durfte erst viel später hinein.
Und dann war es innen eng.
Ganz viele Tische.
Ganz wenig Platz.
4.
Am Tor
Das Kind am Pfeiler der breiten Einfahrt.
Es hat nichts zu tun.
Vor ihm das große Tor des Werksgeländes –
dahinter die Welt.
Menschen passieren den Raumausschnitt auf
ihrem Weg zum oder vom Bahnhof.
Gehetzt, den Blick gesenkt,
eine Aktentasche an der Hüfte,
ein Kind hinterhergezogen.
Andere mit schweren Koffern beladen,
die zur Kur kommen oder gehen.
Manche schlurfen, langsam,
die Zeit auf ihren Schultern
wie einen Mantel. Wieder andere schreiten,
federnd und wach, als wüssten sie,
dass der Tag etwas mit sich bringt.
Manche sind ganz still nur für sich,
wieder andere in wichtige Gespräche vertieft
oder laut lachend; einer schreit…
Das Kind sieht alles; es studiert den Gang,
die Körper, die Gesten.
Die stille Sprache, die nichts sagt und alles verrät.
Ich hatte versprochen, im Hof zu bleiben.
Aber da war diese Ecke – ganz vorne –
wo die Straße zum Kanal abbiegt.
Man sagte: "Die Zigeuner sind da" -
so sagte man damals.
Sie nehmen Kinder mit – so hieß es.
Ich war vorsichtig –
aber auch neugierig.
Ich sah:
Menschen vor Zelten,
Kinder in Spielen,
kleine Hunde im Lauf,
Mädchen, die Lieder flochten in ihre Haare.
Sie konnten keine bösen Menschen sein.
Ich ging zurück,
aber der Ausflug blieb –
ganz mein.
5.
Abschiede am Vormittag
Es war Aufbruchstimmung.
Die große Post wurde gebaut,
meine Mutter ging plötzlich arbeiten
und ich in den Kindergarten.
Ich fand das keine gute Idee,
nachdem mir so ein gefrusteter Knirps
seine Schippe auf Scheitel donnerte,
dass es blutete.
Da konnte meine Mama reden,
wie sie wollte - ich ging nur aus Pflicht -
wie sie eben zur Arbeit.
Übrig blieb das Freuen auf den Freitag -
Wochenende mit all seinen Verlockungen
und Verheißungen: Oma und Opa besuchen,
Omas wundervollen Kastenkuchen essen,
mit ihr in dem kleinen Garten hinterm Haus bosseln,
die schönen großen Gladiolen für die Mama aussuchen,
die war nämlich zu Hause geblieben,
um den Haushalt zu schaffen.
Auf dem Nachhauseweg
den Papa ganz für sich alleine haben -
zum Fragen, zum Erzählen
und keiner kommt und will was.
Was waren das für stille Genüsse.
Zeitzeichen 5:
für diesen wunderbaren gelben Kastenkuchen
mussten Eier und Butter sorgsam aufgespart werden,
denn die gab es nur auf Lebensmittelmarken,
die für jede Familie rationiert waren.
Das erklärt vielleicht, weshalb die Oma
für jeden immer nur ein großes Stück abschnitt
und ich mich nie getraut habe,
nach einem zweiten zu fragen.
Zeitzeichen 6:
der Teig wurde in der Form zum nahen Bäcker getragen,
der ihn neben anderen Nachbarskuchen abbuk.
Zeitzeichen 7:
Meine Mutter erzählte mir,
bevor sie arbeiten ging, reichte oft das Geld nicht -
zum Monatsende konnte sie kein Brot mehr kaufen -
also kaufte sie Brötchen, die gabs billiger.
Na, meinst du, ich hätte irgendwann das Gefühl gehabt, arm zu sein?
Nie im Leben, arm waren in meiner Vorstellung Hänsel und Gretel,
zurückgelassen im Wald.
Ich habe nie gedacht, arm zu sein –
weil der Mangel nicht mit Scham verbunden war, sondern mit Fürsorge
Zeitzeichen 8:
wenn mich meine Mama vom Kindergarten abholte
und wir noch schnell Einkäufe erledigten,
dann standen da im Kaufladen immer die drei großen Bonbongläser –
rote Himbeere, goldene Fenchelbonbons, grüne Waldmeisterblätterbonbons –
natürlich lose und es musste schon ein besonderer Tag sein,
wenn man welche nach Hause tragen durfte.
Aber angeguckt haben sie mich immer.
Ein flacher Bungalow in der Seitengasse.
Waschräume, Toiletten, Garderoben – alles praktisch.
Die Gruppenräume leer in meinem Kopf.
Ich war dort nicht gern.
Und etwas oberhalb:
eine Baracke mit dampfender Küche.
Dort waren die Frauen freundlich.
Sie kochten für uns – nicht nur Essen,
sondern etwas, das wärmer war als Worte.
6.
Zufluchten
Im Herbst und Winter,
auf einer gepolsterten Fußbank
mit dem Rücken am heißen Ofen,
lauschte ich nimmer müde
den Geschichten der Gebrüder Grimm.
Omas winziges Schlafzimmer,
das nur Platz für 2 Betten,
Nachttisch und Frisieranrichte hatte,
bevölkerte sich mit Turm und Spindel
aus Dornröschen oder mit dem Hexenhaus
von Hänsel und Gretel
oder mit den sieben Zwergen oder ….
Oma verstand etwas ganz Besonderes
in unserer Familie – sie konnte Märchen
erzählen und ihr zuhören war ein Genuss –
die Geschichten waren natürlich
nicht immer gleich, aber genau
das war das Spannende,
wie würde sie diesmal beginnen?
Als ich die Märchen später selber
lesen konnte, war das unglaublich schön –
ich konnte jetzt nachprüfen,
was die Oma mir erzählt hatte -,
aber es war trotzdem nicht DAS!
Aber bei der Oma:
Im Treppenhaus Bohnerwachs –
der Duft von gestriegelter Ordnung.
Aus dem Keller kam das Modrige –
wie ein uraltes Gedicht in feuchten Silben.
Diese Mischung
gab es nur da.
Nie wieder.
Nirgends.
7.
Kasper hat Geburtstag.
So ungern ich in den Kindergarten ging -
am letzten Tag wurde ich für alles entschädigt.
Zur Feier des Schulbeginns zeigten sie uns Filme.
Und einer davon war:
Die Geschichte vom Kasper, der Großmutter und dem Teufel –
ein zauberhafter Zeichentrickfilm
aus der Tschechoslowakei.
Kasper hatte Geburtstag
und lud alle ein – sogar den Polizisten und den Teufel.
Die Großmutter stapelte einen Berg
Pfannkuchen auf dem guten Teller,
alles war bereit für das Fest.
Doch dann: ein Dieb tauchte auf,
und die ganze Gesellschaft jagte ihm hinterher.
Nur einer blieb zurück – der Teufel.
Erst zögerlich,
dann immer gieriger
machte er sich
über die Pfannkuchen her.
Bis nichts mehr übrig war.
Später sitzt der Teufel,
sichtlich gequält, auf einer Wolke
im Himmel. „Oi… joi… joi…“ stöhnt er.
Die Großmutter blickt besorgt.
Schon blubbert der Tee.
Alles war gut.
Für diesen Film hätte
die Kindergartenzeit ruhig
noch ein bisschen länger dauern dürfen.
Zeitzeichen 9:
Viele Jahre später - ein ganz anderer Ort,
aber derselbe Laut.
Ich saß in einem Büro mit Kollegen,
wir hatten gerade Stress,
der ach „so wichtige Termin“ rückte näher
und die Anspannung stieg.
Zeitzeichen 10:
Da plötzlich tönt es von einem
Kollegen dieses gequälte „Oi, joi, joi“-
ich musste laut lachen,
wir waren plötzlich,
wie zwei Verschwörer mit den Schlüsseln
unserer Kindheit in der Hand,
was niemand sonst verstand.
Manchmal sah ich,
dass jemand stiller ging als sonst.
Ein Lächeln fehlte,
ein Schritt war schwer.
Ich fragte nicht.
Aber ich sah.
Und manchmal –
ein Gruß, ganz leise.
Ein Blick, der blieb.
Kein Wort –
aber genug.
8.
Ein Schulkind
Unsere Klassenlehrerin war damals
schon eine weißhaarige alte Dame,
die sich mühte, uns OMA AM FENSTER
und MAMA AM STUHL beizubringen.
Was für eine Mühsal zu Beginn.
Mein Vater kriegte schnell mit,
dass ich den Text aus dem Schulbuch
längst auswendig wusste und legte mir
prompt die Tageszeitung vor.
Die sollte ich lesen?
Stotternd und stammelnd versuchte ich
die Buchstaben irgendwie aneinander zu reihen –
es war zermürbend.
Die Wörter dort – fremd, groß, unheimlich.
Aber mein Vater saß neben mir,
er erklärte, er wartete, er half.
Er war es,
der mich so in die Geheimnisse
der Buchstaben einweihte,
dass ich schneller als andere begriff,
welch einen Schatz sie eröffneten –
mit den 26 Buchstaben
konnte man alle Dinge der Welt bezeichnen,
schreiben und lesen –
was für eine Entdeckung.
Zeitzeichen 11:
Zeitung statt Schulbuch –
Die Sprache des Alltags fordert, überfordert, erweckt
.
Meine Eltern schickten mich in die Christenlehre.
Der Pfarrer erzählte von Noah,
von Loths Weib, von einer Geburt im Stall.
Ich mochte diese Geschichten.
Als der Schulunterricht auf den Vormittag verlegt wurde,
trafen wir uns vorher beim Pfarrer.
Die Klassenlehrerin bekam einen Hinweis.
Sie war außer sich. Sie verlangte Versprechen –
Gehorsam. Und ich?
Sie griff mich wortwörtlich,
mit den Fingern an der Wange aus der Bank.
In einem Moment der inneren Wut trotze ich ihr.
„Das müssen Sie mit meinem Vater besprechen.“
Ich sage den Satz, der mich rettet –
Er wird zum Schild, und seine Worte zur unsichtbaren Rüstung.
Sie ging zu ihm. In den Betrieb.
Mein Vater redete mit ihr – offenbar klug.
Das Thema kam nie wieder auf.
Zeitzeichen: 12
Christenlehre als Akt der Ungehörigkeit –
zwischen Glauben und staatlichem Argwohn.
Ein kleines Mädchen hielt ihr Löschblatt hochkant –
niemand sollte sehen, was sie wusste.
Und dann kam die Federtasche.
Ganz aus dem Westen.
Buntstifte in Farben wie aus dem Traum.
Die Jungen wollten leihen.
Sie schrie.
Ich dachte:
Dann soll sie sich die doch sonst wohin klemmen.
9.
Sonntag der Entscheidung
In der kleinen Stadt war Unruhe zum Alltag geworden.
Menschen verschwanden einfach –
über Nacht, ohne Abschied.
Klassenkameraden, Kollegen des Vaters.
„Die sind abgehauen", hieß es.
Aber was hieß das schon?
Was bedeutete es, verschwunden zu sein?
Ein Kollege meines Vaters brachte es auf den Punkt –
sturzbetrunken schrie er:
„Keene Butter, keene Sahne, aber uff‘n Mond die rote Fahne!“
– ein Satz wie ein Gedicht der Verzweiflung. Zack – Knast.
Und auch sein Radio,
das dem Wahnsinn nicht mehr standhielt,
flog bald aus dem Fenster.
Zack – wieder Knast.
Das war die Zeit der absurden Strafen
und der flüsternden Angst.
Und ich mittendrin, 11 Jahre alt,
schweigsam, weil ich gelernt hatte:
Ein falsches Wort, und sie holen Papa.
Kein Kind sollte so denken müssen.
Dann kam der Tag. Sonntag.
Familienbett. Albern.
Und plötzlich sagte mein Vater:
„Ruhe“. - Stille.
Dann: „Jetzt ist es zu spät.“
Es war der 13. August 1961 –
der Tag des Mauerbaus zwischen Ost und West –
Betonschrei.
Die Entscheidung zum Gehen
blieb Wunsch, Rücksicht, Verzicht –
denn Eltern kann man nicht im Stich lassen,
auch wenn der eigene Weg dabei verloren geht.
Doch etwas begann:
Mein Vater zeigte mir die Stadtbibliothek.
Ein Ort voller Schlüssel –
und ich hatte nie mehr Langeweile.
Ich wurde Lesende, Weltenerkunderin,
Versteherin der Zeichen und Geschichten.
Zeitzeichen: 13
„Aber uff’n Mond die rote Fahne“ –
Humor als Hochverrat.
Zeitzeichen: 14
„Jetzt ist es zu spät.“ –
Ein Satz wie ein Kälteschock.
Familie im Spannungsfeld der Geschichte.
Die Wilhelm-Pieck-Tränen:
Ein Schulkind weint aus ehrlichem Pflichtgefühl
über den Tod des großen Parteigenossen.
Der Vater schwankt zwischen
politischem Realismus und elterlichem Trost –
und gewinnt.
Das Lachen kommt später.
10.
Und trotzdem
Wir lebten. Trotz Angst. Trotz Schweigen. Trotz zitternder Wut und heimlicher Träume.
Hoppel und das Sonntagsgericht
Mein Vater baut einen Kaninchenstall,
und Hoppel wird zum tierischen Mitbewohner.
An Sonntagen darf er im Garten
nach Löwenzahn suchen –
ein kleines Fest zwischen Blättchen,
Wiesenfreude und Jagdfinale.
Er schlägt Haken, wir hinterher –
ein Gaudi aus Fell und Kinderlachen.
Hoppel wächst heran.
Und dann steht er plötzlich zur Debatte –
nicht als Freund, sondern als Mahlzeit.
Der Fleischer kommt,
fachmännisch, schweigend.
Doch als er angerichtet vor uns steht,
wird es still. Ich kann nichts essen.
Zu groß die Nähe,
zu frisch die Trauer, zu lebendig die Erinnerung.
Oma Käthe ist die Einzige,
die Hoppel als Gericht akzeptiert.
Sie nimmt ihn mit in ihr Dorf
und schimpft über unsere „Unvernunft“ –
aber das Herz isst nicht mit.
Zeitzeichen 15:
Der Hakenläufer – Hoppel schlägt Kurven
wie ein Gedanke, der sich nicht einfangen lässt.
Zeitgeist 16:
Der Sonntagsverlust –
Das Mahl wird zum Mahnmal,
Erinnerung geht durch den Magen –
aber bleibt im Herzen.
Da war ich schon älter – sagte Oma –
aber ich fühlte mich nicht so.
Die Straße war leer, außer einem Mann mit Hut.
Ich fragte mich, wohin er geht.
Oma sagte: „Du schaust wie dein Opa früher –
du denkst zu viel.“
11:
Sonntage – Widerspruch und Wunder
Die große Familie versammelte sich
bei Oma und Opa im Haus in ihrem Dorf.
Die Tante kam mit ihren Kindern –
darunter der Kleinste,
der unter epileptischen Anfällen litt.
Ich war überfordert, ängstlich –
was tun, wenn etwas passierte?
Doch das war nicht die einzige Unruhe.
Die Erwachsenen gerieten regelmäßig in Streit.
Der Onkel, Parteigenosse und Akademiker,
leugnete den Mangel, den mein Vater spürte –
keine Tapeten, keine Tomaten zu kaufen im Ort.
Sozialismus sei Überfluss?
Mein Vater lachte bitter, ließ sich nicht beirren:
„Das mag ja in Berlin so sein, aber nicht in der Provinz.“
Die Worte wurden zu Waffen –
und irgendwann war es wieder soweit –
der Ruf donnerte: „wir fahren.“
Diese Familien-Sonntage waren für
mich zum Greul geworden –
ein Spießrutenlauf zwischen Angst und Abfahrt.
Ganz anders,
wenn ich dort allein war,
dann war es das Paradies auf Erden.
Ich fütterte die Hühner,
stahl ihnen das kräftige Vollkornbrot,
das nach Freiheit schmeckte.
Ich grub um im Garten,
zog die Spargelbeete im Sommer runter,
schnitt die dicke Hecke zu Nachbars Garten,
pflückte Berge von reifen Johannisbeeren,
stach Löwenzahn für die Kaninchen –
es war einfach umwerfend schön und vor allem –
ich war frei.
Mich kontrollierte niemand
und fragte aus dem Küchenfenster:
„Was machst Du da“?
Es mäkelte auch niemand mit dem Ergebnis –
die Oma war froh, dass es gemacht war.
Zeitzeichen 16:
Der Provinzsatz –
„Das mag ja in Berlin so sein, aber nicht in der Provinz.“
Ein Vaterwort, das Klarheit bringt und Widerspruch markiert
.
Zeitzeichen 17:
Das grobe Brot –
Freiheit schmeckt nach etwas,
das nur Pfennige kostet
und doch unbezahlbar ist.
Böserweise erinnere ich:
Meine Eltern gaben mir einen Roller.
Neu, glänzend, mit richtigen Lufträdern
.
Ich fuhr los – die Tochter, die man auf solche Weise gehen ließ.
Niemand winkte.
Ich glaube, das war das Signal.
12:
Die Waschschüssel und das erschütternde Erzählen
Ich war fünfzehn,
die Füße in der Waschschüssel,
nach einem langen Tag im Garten.
In Omas Küche war es warm,
die Sonne war gedämpft,
und wir saßen nebeneinander,
sie mit ihrer eigenen Schüssel,
so wie es sich gehörte.
Dann kam das Erzählen – aus dem Nichts,
leise, fast im Vorbeigehen.
„Als deine Mutter noch ganz klein war,“
sagte sie, „da hing ihr Leben am seidenen Faden.“
Es war ein Notfall. Ein Arzt wurde gerufen –
nicht der von nebenan,
sondern der jüdische Arzt aus dem Vorwerk.
Er war günstiger. Und er war klug.
Er trat ins Zimmer,
blickte sich um, und sagte nur:
„Die Hyazinthen raus – sofort.“
Der Winzling im Bett – meine Mutter –
stand unter einem akuten Schock.
Das Kind überlebte.
Weil jemand nicht nur Medizin verstand,
sondern den Menschen.
Dieser Arzt rettete das Leben.
Jahre später,
im Tante-Emma-Laden meiner Großmutter,
stand derselbe Mann vor ihr.
Sie sagte zu ihm:
„Ich möchte, dass Sie hier nicht mehr einkaufen.“
Sie würde ihn nicht mehr bedienen.
Was war das?
Ich saß mit den Füßen im Wasser,
stumm und aufgewühlt.
Es war, als hätte sich die Küche verändert.
Das Linoleum unter den Füßen wurde brüchig,
die Luft wie durchsichtiger Staub.
Zur Ehrenrettung meiner Großmutter:
Nach dem Krieg suchte sie ihn.
Er war gegangen, rechtzeitig,
und praktizierte in Westberlin.
Vielleicht war das eine Form von Reue.
Vielleicht war es der Versuch,
die Geschichte zurückzuholen –
einen Moment, ein Menschenleben, eine Schuld.
Zeitzeichen 18:
Hyazinthen im Krankenzimmer –
Duft als Gefahr, Leben hängt an einem Blick.
Zeitzeichen 19:
„Ich möchte, dass Sie hier nicht mehr einkaufen.“ –
Ein Satz, der wie Blei in der Erinnerung liegt
.
Zeitzeichen 20:
Die Waschschüssel –
Der Ort, an dem das Erzählen geschieht.
Zwei Füße im Wasser,
zwei Frauen im Gedächtnis der Familie.
13.
Die Frage
Brigitte war damals oft da.
Wir saßen nebeneinander
auf den warmen Steinstufen vor dem Haus,
teilten Pfefferminzpastillen
und schwiegen in einer Sprache,
die nur Kinder verstehen.
Es war dieses einfache Zusammensein,
das später so schwer zu finden war.
Plötzlich durfte sie nicht mehr kommen.
Kein Grund – nur der Blick meiner Mutter,
wie ein zugezogenes Rollo.
Ich sagte: keine Zeit.
Ich sagte: ich muss noch was erledigen.
Aber Brigitte hörte nicht auf zu fragen.
Und irgendwann sagte ich es –
das Verbot, das nicht mir gehörte.
Zucker und Schloß
Ihre Mutter, machte uns Zuckerei
gegen den Kummer und brüllte das Kanaldeutsch
der kleinen Leute wie eine Standarte:
als sie meine Mutter fragte,
ob der Umgang mit ihrer Tochter
nicht gut genug für mich sei.
Ihr Mann hängte ein Vorhängeschloss
an den Kühlschrank, weil der große Sohn
ihn nachts leerte.
Ich staunte. Ich schwieg.
Ich lernte das Gewicht von Stolz kennen.
Die Stille
Dann wurde mein Vater krank.
So krank, dass nichts mehr sicher war.
Das änderte alles.
Ich wollte arbeiten.
Meine Mutter sagte nein.
Er rang mir das Versprechen ab –
Abitur, egal was geschieht.
Und danach kam ich
nicht mehr wirklich vor
in diesem Familienbild.
Mittagspause. Suppenteller.
Darmspiegelungen.
Ich wartete auf einen Platz, der nicht leer blieb.
Die Stille kam nicht plötzlich –
sie kroch.
Zwischen dem Frühstück
und den gelben Röhrchen,
zwischen dem Blick meiner Mutter
und dem leeren Platz am Fenster.
Ich war da, aber keiner fragte, ob ich blieb.
Zucker, Schweigen und ein Stipendium
Brigitte blieb zurück,
der Kühlschrank blieb verschlossen,
mein Vater schwieg.
Aber ich ging los –
als Erste, mit Stipendium,
hinaus aus den Rängen
der kleinen Stadt in eine Welt,
die uns damals nicht einmal für möglich hielt.
Zeitzeichen 21:
"Der Blick wie ein Rollo"
Ein Kind versteht, dass Nähe nicht immer
sichtbar bricht - manchmal zieht sich einfach etwas zu.
Zeitzeichen 22:
Das Vorhängeschloss am Kühlschrank
Kontrolle im Alltag . ein Symbol für Mangel,
Stolz und die stille Not der kleinen Leute
Zeitzeichen 23:
Ich war da, aber keiner fragte, ob ich blieb."
Unsichtbarkeit als Zustand - nicht aus
Abwesenheit, sondern aus Übersehenwerden.
Zeitzeichen 24:
"Was is'n Germanistik"
Bildung als Fremdsprache - und der stille
Triumpf, wenn man trotzdem geht
Abgang mit Ausnahme „Was is‘n Germanistik?“ fragte man. „Was Ordentliches wär besser“, sagten sie. Pharmazie war vorgesehen. Ich war ungeeignet. Dachte ich. Die Bürokratie dachte anders. Numerus clausus – aber nicht für mich. Eintritt durch Ausnahme, Ausstieg aus Einsicht. Und plötzlich saß ich dort, wo niemand hinwollte, aber genau ich.